Ausgabe: Der Sprachdienst 6/2015

durchwinken

@ CC-Lizenz

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Die Flüchtlingskrise hat Europa im Griff, kaum ein Thema beherrscht die Medien derzeit stärker. Die Situation ist angespannt und zeigt sich vor allem politisch und gesellschaftlich immer prekärer. Aus sprachlicher Sicht erweist sich die Flüchtlingskrise jedoch als wahre Fundgrube für neue Wörter, alte Wörter mit neuen Bedeutungen, für neugebildete und ergänzte Wortfelder. Gerade das Erstglied des Kompositums Flüchtling(s)- bietet reiche Ernte: Flüchtlingskrise, Flüchtlingslager, Flüchtlingsfrage, Flüchtlingskurse usw. Doch darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden. Es geht vielmehr um ein altbekanntes Wort, das im Zuge der Flüchtlingsdiskussion verstärkt in den Fokus getreten ist: Es geht um durchwinken.

Allenthalben ist derzeit von einem Dauer-Durchwinken die Rede, von einer Politik des Durchwinkens, die von vielen Seiten kritisiert wird: Denn Flüchtlinge werden in einigen Ländern teilweise zum nächsten Nachbarstaat durchgewinkt, ohne dass sie registriert worden wären. Hierbei geschieht, was laut Duden (»Großes Wörterbuch der deutschen Sprache«, Mannheim 2012) die Bedeutung von durchwinken darstellt: Die Flüchtlinge werden »durch Winken [aufgefordert], eine Absperrung, Kontrolle o. Ä. ohne anzuhalten zu passieren«. Dabei ist durch das Dublin- Verfahren eigentlich vorgesehen, dass die Flüchtlinge dort einen Asylantrag stellen, wo sie den europäischen Boden zum ersten Mal betreten; dieses wurde jedoch im August – besonders für Flüchtlinge aus Syrien – vorübergehend ausgesetzt. In diesem Kontext hat sich das Wort mittlerweile beinahe zu einem Terminus entwickelt: Europäische Nachbarländer pflegten die Flüchtlinge zum nächsten Land durchzuwinken. Doch dem Durchwinken soll ein Ende gesetzt werden.

Das Verb winken als solches ist natürlich wesentlich älter als diese Praxis. Aus dem Indogermanischen stammend hat es sich über das althochdeutsche Verb winkan entwickelt und hatte schon im Mittelhochdeutschen die heutige Form winken. Trotz dieser recht geradlinigen und überschaubaren Entwicklung der Formseite hat die Inhaltsseite einen stärkeren Wandel durchlaufen. Ursprünglich bezeichnete das Verb ein Abweichen von der geraden Richtung im Sinne von ›sich seitwärts bewegen, schwankende Bewegungen machen, zur Seite biegen‹. Hier zeigt sich die enge Verwandtschaft mit wanken. Doch anders als dieses Verb war winken »in seiner hauptverwendung seit alters auf solche bewegungen eingeschränkt, die durch gliedmaszen des menschlichen körpers hervorgerufen werden« (J. u. W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854 ff.). Zunächst war dies das unabsichtliche Bewegen der Augenlider, anschließend das absichtliche Blinzeln, um hierdurch Zeichen zu geben; hieran schloss sich an, durch Bewegungen des Kopfes – nicken – und der Hände Zeichen zu geben, bis das Verb winken schließlich die heutige Hauptbedeutung eines Hin- und Herbewegens der Hände zum Zweck des Zeichengebens erhielt.

Interessanterweise handelt es sich bei winken schon seit jeher um ein schwaches Verb, dessen Präteritum- und Partizipform regelmäßig gebildet werden: winken – winkte – gewinkt (wie wanken – wankte – gewankt). Umgangssprachlich und mundartlich wird jedoch häufig ein starkes Partizip gebildet: gewunken; die Präteritumform, die entsprechend ein a enthalten müsste, bleibt dagegen unberührt, so heißt es überall winkte, nicht *wank. Diese Entwicklung ist mitnichten ein Produkt der Neuzeit: Schon im Mittelhochdeutschen wurde versucht, winken in eine Klasse der starken Verben zu überführen. Dies ist insofern ein spannendes Phänomen, als sich tendenziell starke Verben zu schwachen Verben entwickeln, wie dies schon vielfach in der Sprachgeschichte zu beobachten war (z. B. backen – buk – gebacken; heute vorwiegend backen – backte – gebacken). Wie sich zeigt, wird nun besonders durchwinken auch in der Presse häufig mit dem starken, aber doch eigentlich inkorrekten Partizip durchgewunken gebildet: Möglicherweise hat hier der Vokal im Präfix durch- einen Einfluss auf den Stammvokal, der mit u näherliegt als mit i. Eine Google-Abfrage macht deutlich: Das standardsprachliche Partizip durchgewinkt ist mit ca. 32.000 Einträgen um einiges seltener als durchgewunken mit 130.000 Einträgen. Im Vergleich liegt dagegen gewinkt (186.000 Einträge) quantitativ noch immer vor gewunken (146.000 Einträge).

Damit zurück zum neuerdings politisch geprägten durchwinken: Ungeachtet der bürokratischen Konsequenzen ist kürzlich das Dublin-Verfahren wieder eingesetzt worden. Dies bedeutet, dass bei syrischen Asylbewerbern geprüft wird, ob sie in anderen Ländern zuerst europäischen Boden betreten haben. Ist dem so, sollen sie in diese Länder zurückgeschickt werden – was sich aufgrund der Tatsache, dass viele zuvor von diesen Ländern ohne Registrierung durchgewinkt worden waren, als schwierig erweisen dürfte. Wir sind gespannt, welche Folgen diese Entscheidung sowohl für die Praxis des Durchwinkens als auch für die semantische Entwicklung des Verbs haben wird.

Frauke Rüdebusch