Eine eigene Handschrift

»Gasexplosionen haben …«, ja, was? Würde man Testpersonen dazu auffordern, diesen Satz zu vervollständigen, kämen sicher viele verschiedene Lösungen zustande, etwa »Gasexplosionen haben verheerende Folgen«, »Gasexplosionen haben eine große Wucht« usw., aber wohl nicht unbedingt »Gasexplosionen haben eine ganz eigene Handschrift«. Dieser Satz war unlängst in einer Fernsehdokumentation des Senders N24 zu vernehmen, und er macht hellhörig. Können Gasexplosionen tatsächlich eine Handschrift haben? Eine Handschrift im wörtlichen Sinne kann doch wohl nur haben, wer eine Hand und eine Schrift hat. Aber natürlich gibt es in der Sprache vielfach nicht nur wörtliche, sondern auch übertragene Bedeutungen. Es ist z. B. allgemein bekannt, dass ein Baum im Frühjahr anders ausschlägt als ein Pferd (ganzjährig). So ist es nun auch mit der Handschrift, auch die kann man in unterschiedlichen Bedeutungen verwenden und verstehen. »Hans hat eine schöne Handschrift« und »Hans hat zehn Handschriften von Franz Kafka« verstehen wir gleichermaßen leicht und richtig, obwohl die Bedeutung von Handschrift in den Sätzen verschieden ist. Übertragene Bedeutungen können von der »eigentlichen« Bedeutung mitunter recht weit wegführen. So muss auch eine Handschrift durchaus nicht immer eine Schrift sein, wie es in den oben genannten Beispielen ja immerhin noch der Fall ist. Von einem Einbrecher etwa, der viele Delikte begeht, die Ähnlichkeiten aufweisen, kann man sagen, der Täter habe eine bestimmte Handschrift. Ein Bezug zum Schreiben ist hier nicht mehr vorhanden, gemeint sind lediglich bestimmte Charakteristika der Delikte, die darauf hindeuten, dass sie von ein und demselben Täter begangen wurden. Die Eigenschaften der Taten sind also wiedererkennbar wie die Handschrift einer Person.

Nun zurück zum Ausgangsbeispiel »Gasexplosionen haben eine ganz eigene Handschrift«: Warum also wirkt dieser Satz so merkwürdig? Schließlich ist es leicht vorstellbar und einzusehen, dass eine Gasexplosion andere Folgen nach sich zieht und andere Charakteristika hat als etwa ein Erdrutsch. Die übertragene Bedeutung von Handschrift scheint in diesem Satz jedoch den Vorstellungshorizont einfach zu überdehnen. Solange insgesamt die Rede von einer Person ist, die bewusst und absichtsvoll etwas in einer bestimmten Art und Weise ausführt, gelingt die Übertragung vom Schreiben zum Einbruch problemlos. Eine Gasexplosion aber ist etwas, das sich ereignet, als Unglücksfall aufgrund eines technischen Defekts oder menschlichen Versagens. Natürlich kann sie auch mutwillig herbeigeführt werden, die Handschrift hätte dann aber immer noch der Täter und nicht die Explosion als solche. Im Sprachgebrauch ist es immer möglich, mit Bedeutungen zu spielen, aber nicht immer glücken derartige Übertragungen, und für die meisten Menschen ist es wohl einleuchtend, dass Gasexplosionen und deren Folgen bestimmte Eigenschaften haben, aber in sprachlicher Sicht deshalb trotzdem keine Handschrift.

Nicola Frank