Ausgabe: Der Sprachdienst 2/2017

Historisch

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Wir leben in historischen Zeiten! Wie das, mag sich manch einer fragen, wenn wir doch in der Gegenwart leben, die Geschichte, also die Historie, aber Vergangenheit ist? Heißt das, wir leben rückwärtsgewandt, quasi in der Vergangenheit, können uns auf die Gegenwart nicht einlassen? Mitnichten. Und dennoch begegnet uns das Adjektiv historisch in den vergangenen Jahren so oft in Kontexten, in die es sich in seiner ursprünglichen Bedeutung gar nicht so richtig einfügen will. Von einem historischen Zinstief ist da die Rede – dabei geht es doch um das derzeitige. Von einer historischen Entscheidung über den Austritt Großbritanniens aus der EU – und das schon vor dem Referendum. Von historischen Siegen, in der Politik oder im Sport, ob es nun internationale Spiele oder die Kreisklasse betrifft: Historisch hört man allerorten, ohne dass die landläufigen Wortbedeutungen ›geschichtlich‹ oder auch ›die Geschichte betreffend‹ greifen würden. Es muss also eine weitere Bedeutung vorliegen. Und so ist es: In den genannten Kontexten bezeichnet das Adjektiv historisch etwas, das für die Geschichte, die Geschichtsschreibung bedeutsam ist, entweder, weil es so noch nie dagewesen ist, oder aber, weil es sich für den weiteren Verlauf der Geschichte als wesentlich erweisen könnte.

War das schon immer so? Unser Gefühl, unser Sprachwissen sagt uns: nein, und damit liegt es richtig. Ein Blick in die Wortgeschichte zeigt uns allerdings, dass diese erweiterte Bedeutung um einiges älter ist, als man annehmen möchte. Doch beginnen wir vorn:

Das Adjektiv historisch wurde im frühen 16. Jahrhundert aus dem lateinischen historicus ›geschichtlich‹ entlehnt, das seinerseits auf das Griechische zurückgeht. Das dazugehörige Substantiv Historie existiert derweil schon seit dem 13. Jahrhundert im Deutschen, auch dieses kam über das Lateinische zu uns; zugrunde liegt griechisch hístōr ›der Kundige, Zeuge‹. Historie wurde letztlich durch das germanischstämmige Substantiv Geschichte (zum Verb geschehen) verdrängt, doch obwohl ›geschichtlich‹ wohl als adäquate Übersetzung von historisch gelten kann, greift es doch zu kurz und vermag nicht alle Bedeutungsnuancen des Lehnworts darzustellen: So hat sich historisch im Gegensatz zu Historie, das heute teils als veraltet, teils als bildungssprachlich gesehen wird, im deutschen Standardwortschatz gehalten. Bereits Adelung äußert sich dazu in seinem »Wörterbuch der hochdeutschen Mundart« (Wien 1807): »Nur das Bey- und Nebenwort historisch [zu Historie] […] hat noch keinen schicklichen deutschen Ausdruck gefunden indem das von einigen versuchte geschichtlich sich nicht in allen Fällen gebrauchen lässet.« Hier klingt schon an, was sich erst in deutlich späteren Wörterbüchern niederschlägt: Das Adjektiv hat weitere Bedeutungen als nur ›die Geschichte, vergangenes Geschehen betreffend‹ und ›geschichtlich‹. Dem »Deutschen Fremdwörterbuch« (Berlin 1995) ist zu entnehmen, dass historisch schon seit Ende des 18. Jahrhunderts »mit Bezug auf bes. bedeutende Einzelereignisse nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart« verwendet wurde, und zwar mit der folgenden Bedeutung: ›für die Geschichte und ihren weiteren Verlauf bedeutungsvoll […], den weiteren Gang der Dinge verändernd und bestimmend, in die Zukunft wirkend‹ bzw. ›[…] den Bereich des geschichtlich Überlieferten, des Herkömmlichen, Bekannten, jemals Dagewesenen überschreitend‹. So ist historisch mit dieser Bedeutung oft gleichzusetzen mit epochal (›über den Augenblick hinaus bedeutsam, in die Zukunft hinein wirkend‹) und wird konnotiert mit Großartigkeit, Unerhörtheit, Einmaligkeit, Rekord, Sensation.

Doch trotz der recht alten Verwendung verzeichnen die Brüder Grimm (»Deutsches Wörterbuch«, Leipzig 1854 ff.) einzig die Bedeutung ›geschichtlich‹, auch spätere Wörterbücher verweisen nur auf die zwei gängigen Definitionen. Erst seit Mitte des 20. Jahrhundert ist in den Wörterbücher eine erweiterte Bedeutung von historisch nachzuweisen, nämlich ›für die Geschichte bedeutungsvoll‹ (z. B. »Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache«, Berlin 1969; aktuell: »Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache«, 4. Aufl. Mannheim 2012: ›bedeutungsvoll, wichtig für die Geschichte‹). Beispiele mit dieser Verwendung gibt es zahlreiche, neben den eingangs erwähnten etwa folgende: historischer Schritt, historisches Ereignis, historische Chance, historische Wahlniederlage; die Wahlbeteiligung sank auf einen historischen Tiefstand, das gestern ratifizierte Abkommen kann man nur als historisch bezeichnen.

Seit über 200 Jahren wird historisch also in derlei Kontexten verwendet und trägt dort eine Bedeutung, die sich von der ursprünglichen weiterentwickelt hat. Dagegen ist nichts einzuwenden; wir fragen uns allerdings: Wieso fällt uns diese Verwendung heute so stark ins Auge, wenn sie doch schon lange nicht mehr neu ist? Die Antwort mag sein: Weil sie möglicherweise überstrapaziert wird. Wie viel »nie Dagewesenes« muss es der bloßen Zahl an kontextuellen Verwendungen zufolge täglich geben? Wie viele bedeutsame Ereignisse finden demnach täglich statt, die den Lauf der Geschichte wesentlich beeinflussen und verändern? Unzählige, so scheint es. Eine Eigenschaft des Adjektivs historisch in der erweiterten Bedeutung ist jedoch die, dem beschriebenen Ereignis einen herausragenden Charakter zu verleihen – doch wenn plötzlich alles »herausragt«, gibt es letztlich keinen Unterschied zu anderen, weniger bedeutungsvollen Ereignissen. Das heißt: Statt das Wort inflationär zu verwenden, sollte man besser umsichtig damit umgehen – was sich allerdings von vielen anderen »Superlativen« auch behaupten lässt.

Wir lernen also: Ein historisches Ereignis muss nicht in der fernen Vergangenheit stattgefunden haben, es kann sogar in der Zukunft liegen. Verwirrend? Vielleicht. Aber nicht langweilig. Wie gesagt: Wir leben in historischen Zeiten.

Frauke Rüdebusch