Ausgabe: Der Sprachdienst 5/2009

Herkunft von nichtsdestotrotz

[F] Immer wieder begegnet mir das Wort nichtsdestotrotz, das doch eigentlich ein »Unwort« ist, eine Mischung von nichtsdestoweniger und trotzdem. Diese Verballhornung war ja wohl früher einmal witzig gemeint und ist dann in die Umgangssprache eingegangen. Doch jetzt wird sie anscheinend immer »offizieller«, wird in den öffentlich-rechtlichen Medien und in seriösen Vorträgen verwendet. Seit wann ist sie übrigens bekannt?

[A] Der Ausdruck nichtsdestotrotz – um mit Ihrer letzten Frage zu beginnen – ist auf jeden Fall schon im 19. Jahrhundert aufgetreten. Heinz Küpper schreibt in seinem Wörterbuch der deutschen Umgangssprache (4. Auflage, 1965): »Wahrscheinlich in Berlin entstanden« und nennt als Jahr »1890«. In seinem später erschienenen Illustrierten Lexikon der deutschen Umgangssprache (Band 6, 1984) korrigiert er: »Wahrscheinlich in Berlin aufgekommen um 1870.« Dort bucht er, dies nebenbei, außerdem die Erweiterung nichtsdestowenigertrotz, was den umgangssprachlichen, sprachspielerischen Charakter des fraglichen Ausdrucks bestätigt. Küpper verweist auf Belege seit 1898. Der früheste Beleg, auf den wir gestoßen sind (der Google-Buchsuche sei Dank), stammt aus dem Jahr 1884 und findet sich in Dialektgedichten Edwin Bormanns (1851–1912): Leibz‘ger Allerlei: fimf Biecher Boësiegedichder ännes alden Leibz‘gersch (z. B. Drum zittre du nichtsdestotrotz). 1890 taucht in einem Artikel der Neuen Rundschau dieses Wort auf …, und 1903 gilt ihm eine Glosse des Redakteurs der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins (XVIII. Jahrgang, Nr. 3: Oskar Streicher, »Briefkasten«), die auszugsweise zitiert sei: »Die Wendung ›nichtsdestotrotz‹ ist vermutlich eine absichtliche Entstellung des zopfigen ›nichtsdestoweniger‹ […]. Dieses ›nichtsdestotrotz‹ im Sinne des Freiligrathschsen Lieblingswortes ›trotzalldem und alledem‹ ist ein scherzhafter Ausdruck, den zwar Büchmann […] nicht verzeichnet, der aber besonders in studentischen Kreisen und auch sonst, wenigstens hier zu Lande [gemeint ist Berlin], geläufig ist.«

Hier haben wir schon das Deutungsmuster und die Bewertung, auf die man bis heute zurückkommt. Die lokale Zuordnung stützt Küppers Annahme – vom Auftreten im Leibz‘ger Allerlei sei einmal abgesehen. Das Stadtwörterbuch Der richtige Berliner verzeichnet nichtsdestotrotz ab 1925 (aufgenommen vom Berlin-Brandenburgischen Wörterbuch, Band III, 1994). Wir nennen nur noch die wichtigsten Stationen der lexikographischen Registrierung dieses »Mode-« bzw. »Unwortes«: 1935 wird es vom Sprach-Brockhaus kommentarlos, ohne Bewertung als »scherzhaft« oder »umgangssprachlich« verzeichnet, ebenso in Trübners Deutschem Wörterbuch, Band 4, 1943, bearbeitet von Alfred Götze, während es 1935 in der Glossensammlung Wörter und ihre Schicksale von A. J. Storfer diese kritische Würdigung erfährt, getragen von einem sprachpflegerischen Ingrimm (der freilich den dreimaligen Ansatz mit daß nicht verhinderte): »Man hört heute besonders in der Berliner Umgangssprache so häufig ›nichtsdestotrotz‹ sagen (eine ursprünglich wohl scherzhafte Verschmelzung von nichtsdestoweniger und trotz alledem), daß man – eingeschüchtert durch die Erfahrung, daß die Fehler von heute nicht selten Vorboten der Regeln von morgen sind – sich des Gedankens nicht erwehren kann, daß die Wörterbücher demnächst auch diesem üblen Bankert ihre Spalten werden öffnen müssen.«

Auf jeden Fall hatte ein Wörterbuch, wie erwähnt, bereits im selben Jahr (1935) seine Spalten für diese Mischbildung geöffnet; weitere folgten. Die Rechtschreib-Duden z. B. ab 1952 bzw. 1954 (Duden Leipzig bzw. Mannheim), mit Vermerk »umgangssprachlich«; Knaurs Rechtschreibung 1973, ohne Kommentierung; Wahrigs Deutsches Wörterbuch, 1966 (»scherzhaft, umgangssprachlich«); und so fort bis in die Gegenwart. Lutz Röhrich führt in seinem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten (1991) aus: »Nichtsdestotrotz: trotzdem, gleichwohl; scherzhaft dem ›Nichtsdestoweniger‹ nachgebildet, dessen Etymologie dem Gefühl des Laien unzugänglich ist.«

Wird nichtsdestotrotz auch heute immer wieder kritisch beargwöhnt, hat es sich – auch dies ist zu konstatieren – vielfach längst als »normal« und standardsprachlich etabliert. Schon 1985 hielt Helmut Ludwig fest (Gepflegtes Deutsch, Leipzig), dass dieses »im Scherz gebildete« Wort »selbst von seriösen Autoren nicht scherzhaft gebraucht wird«. Gegenwärtig nicht anders. Zahllose Belege für ein Vorkommen in diesem Sinne wären zu sammeln, Fachliteratur eingeschlossen; digitale und online verfügbare Textkorpora geben sie rasch an die Hand – hier nur zwei dieser aktuellen Beispiele aus der Presse: »Nichtsdestotrotz bleibt Bankchef Klaus-Peter Müller bei seinem Renditeziel« (Handelsblatt, 12. 7. 2005); »Nichtsdestotrotz gestand die Firma mangelnde Aufklärung ein« (Berliner Zeitung, 27. 6. 2006)

Es wird mit diesem Ausdruck auch gespielt, so gibt es Internetseiten unter diesem Titel, eine Buchveröffentlichung; eine Punk-Band nennt sich so u. a. m. Ja, um dies nicht zu vergessen: Nichtsdestotrotz wurde tatsächlich – sagen wir: trotz seiner Herkunft, trotz aller Kritik, nichtsdestotrotz also – als eines der »schönsten deutschen Wörter« vorgeschlagen, und die Jury des Goethe-Instituts ließ sich nicht davon abhalten, es in ihre Auswahl (siehe die Buchedition, Ismaning 2005, S. 44) aufzunehmen.

Mischbildungen kommen ja – dies als letzte Bemerkung – immer wieder vor; sie bleiben vielfach ironisch und an einen bestimmten Kontext gebunden (so wenn seinerzeit Gorbatschow nicht als General-, sondern, wegen seiner Bestrebungen gegen übermäßigen Alkoholkonsum in Russland, als Mineralsekretär tituliert wurde), verharren z. B. im jugendsprachlichen Umfeld (so wie früher unter Schülern selbstverständlich und freilich zu selbstverfreilich vermischt wurde), werden mitunter nur irrtümlich gebildet (so wenn Feldstecher und Operngucker sich zu Opernstecher vereinigen). Gelegentlich gibt es allerdings, wie sich an nichtsdestotrotz zeigen lässt, den Übertritt in die standardsprachliche Sphäre. Ein Vorbild, ein kritiklos zu akzeptierendes Muster für den eigenen Sprachgebrauch bedeutet dies gewiss nicht.