Ausgabe: 3/2013

»Nun so sage doch Freund, wie man Pedant uns verdeutscht.« Campes nachdenkliche Antwort

Von Helmut Henne

Der Wortpurismus des Spätaufklärers Joachim Heinrich Campe (17461818), der ein bedeutendes schriftstellerisches, pädagogisches und lexikographisches Werk vorgelegt hat, wird von Goethe und Schiller in ihren Xenien von 1796 einer literarisch inspirierten Kritik unterzogen. Diese Kritik ist hier Ausgangspunkt weiterer Überlegungen, wie das griechische und lateinische Worterbe zu tradieren sei. Dabei werden die erklärende und diskursive Arbeit Campes an den »fremden Wörtern« gewürdigt, sein Streben nach Ersatz problematisiert und seine erfolgreichen »eigensemantischen« Lehnbildungen registriert.

The word purism of Joachim Heinrich Campe (17461818), who presented a considerable literary, pedagogical and lexicographical work, has been criticized by Goethe and Schiller in their Xenien. In this article the critique serves as a starting point for further considerations about how Greek and Latin heritage can be transmitted into German. The present article recognizes Campe‘s explicative and discursive work on foreign words, it questions his striving for replacement, but also presents his successfully established »autosemantic« loan formations.

1 Campe – ein guter Mann

In einem Gespräch, das ich mit Walter Boehlich, dem Literaten und Literatur- und Sprachkritiker in Frankfurt 1996 führte, nannte dieser Campe einen »guten Mann«. Das spielt auf seine von sozialer und gesellschaftlicher Verantwortung getragene Tätigkeit als Pädagoge und Kulturschaffender an. Dazu hält man auch das Prädikat »Spätaufklärer« bereit. Und man muss hinzufügen: Campe ist auch ein berühmter Mann. In einer großen Ausstellung zu seinem 250. Geburtstag im Jahre 1996, veranstaltet vom Braunschweigischen Landesmuseum und der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, bei der ich Campes »Wörterbuchwerkstatt« vorstellte, wurden die vielfältigen Facetten seines fruchtbaren Schaffens nachgezeichnet. Der sog. »Ausstellungskatalog«, der eigentlich eine Sammlung profunder Essays und Aufsätze zu seinem Werk darstellt, trägt, überraschend, den Titel »Visionäre Lebensklugheit«.1 »Visionär«? »Was erlauben Hanno Schmitt?« (um mit dem Fußballtrainer Trappatoni zu sprechen), Hanno Schmitt, der den titelgebenden Beitrag zum Katalog schrieb. Der Visionaire wird in Campes Wörterbuch »fremder Ausdrücke« von 1801 mit ›der Seher oder Geisterseher, der Schwärmer‹ erklärt.2 Alles andere als Visionär wollte Campe, seinen Erklärungen folgend, also sein. Der Titel seines Wörterbuchs spricht zudem von »unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücken« und verspricht Erklärung und Verdeutschung. Wird dieses Wörterbuch, in Sonderheit aus zeitgenössischer Sicht, auch als Problemfall eingestuft, so gehört Campes fünfbändiges »Wörterbuch der Deutschen Sprache«3 – zuletzt von Imke Lang-Groth in einer Braunschweiger Dissertation zum Thema gemacht4 – zu Campes Verdiensten. Es gibt also eine Zone lexikalischen Schaffens von Campe, die in der Kritik, vor allem, ich erwähnte es, in zeitgenössischer Kritik steht. Man kann hier also von Campes problematischem Fremdwortpurismus sprechen.

2 Campe – »Waschfrau« an der Oker?

Die »Reinigung und Bereicherung der Deutschen Sprache« – so im Titel einer Publikation von 1794 – wird von Campe seit 1790 betrieben, mit Schriften, die seine sprachpuristische Konzeption entwerfen und mit Beispielen illustrieren.5 Von 1795 bis 1797 gibt er zusammen mit einer Gesellschaft von Sprachfreunden »Beiträge zur weitern Ausbildung der Deutschen Sprache« in 9 Stücken heraus.6 Darin schrecken die Sprachfreunde, auch Campe, vor einer über den lexikalischen Purismus hinausgehenden Kritik und Verbesserung literarischer Werke, auch vor dem höchsten, vor Goethes »Iphigenie«, nicht zurück. Goethe und Schiller revanchieren sich mit »Xenien«, wörtlich: ›Gastgeschenken‹, hier Epigrammen in der Form eines Distichons mit einem Hexameter als erstem und einem Pentameter als zweitem Vers. Diese Xenien veröffentlichen sie gemeinsam in Schillers »Musen-Almanach«.7 Sie erscheinen im Oktober 1796 zur Leipziger Buchhändlermesse, um die Besucher, also Literaten, Verleger, Literaturfreunde, anzusprechen; auch die »Sprachfreunde«, insbesondere der Sprachfreund Nr. 1, werden ins Visier genommen. Das Besondere dieser Ansprache ist nun, dass im 7. Stück der Braunschweiger »Beiträge« von 1797 die Distichen der Weimarer einer Rücksprache für würdig befunden werden: Die bezüglichen Distichen der Weimarer – die »Beiträger« sprechen, natürlich, von »Doppelversen« – werden von mir jeweils zitiert, und die »Beiträger«, im Besonderen »Der Sprachreiniger« aus Braunschweig, erteilen jeweils eine Antwort.8 Zunächst die Weimarer:

Eridanus.

An des Eridanus Ufern umgeht mir die furchtbare Waschfrau,

Welche die Sprache des Teut säubert mit Lauge und Sand.

Die Oker, der linke Nebenfluss der Aller, wie das Lexikon lakonisch vermerkt, mutiert hier zum Eridanus, dem sagenhaften »Bernsteinfluss« der Antike – beide Flüsse wohl »bräunlich-gelb«.9 Zunächst erfolgt also eine Adelung, die ins Mythische greift. Aber dann: An der Oker wohnt, man möchte gern lesen: die fruchtbare, aber es ist die furchtbare, also ›Angst und Schrecken einflößende‹ »Waschfrau«, die »mit Lauge und Sand« ohne Unterlass »säubert« »die Sprache des Teut«. Auch hier greifen die Verfasser zum Mythos – Teut ist ein keltischer Name eines Riesen, der in der »Klopstockzeit für den Stammvater der Deutschen« stand.10 Also, die sprachpuristische Tätigkeit soll dem Spott preisgegeben werden. Einige, nicht alle werden sagen: Man merkt die Absicht und man ist verstimmt. Nicht so Campe; er nimmt den Spott an und versucht, ihn zu wenden mit einer Erläuterung aus der »Wasch=anstalt am Eridanus« – so unterzeichnet er seine Antwort:

Erläuterung.

Seid ihr rechtliche Männer, so habt ihr nichts zu befahren;

Diesen zeiget man nur, selbst sich zu waschen, den Quell.

Seid ihr aber von jenen, »die über und über beschlabbert

Bis an die Ohren mit Koth, liegen auf faulendem Heu«:

Dann vermeidet den Ort; denn solcher wartet die Lauge,

Wartet der reibende Sand, wartet der striegelnde Kamm!

Die Wasch=anstalt am Eridanus.

Campe bleibt im Bild des Waschens, das er allegorisch ausweitet. Er benutzt, wie es in seinem Wörterbuch heißt, ein »altes, aber brauchbares Wort«: befahren i. S. v. ›befürchten‹, weist auf freiwilliges Waschen, der »Quell« sind wohl Campes verdeutschende Wortlisten, und droht den »Beschlabberten«, eine Passage, die er sinnigerweise, nicht ganz wörtlich, aus Goethes »Reineke Fuchs« nimmt,11 mit Zwangsmaßnahmen in der Waschanstalt. Die Antwort vermittelt etwas von dem puristischen Furor der Waschanstalt. Wer sich nicht selber wäscht, wird gewaschen, wird wortpuristisch gesäubert. Campes Gebot ist ohne Ausnahme. Der Pädagoge aus Braunschweig besaß, mit Bezug auf seinen volksaufklärerischen Auftrag, ein rigoroses Sendungsbewusstsein.

Die Weimarer Zunft wusste das natürlich. Campe war nicht zu erschüttern, schon gar nicht zu überzeugen. Wir wüssten gern, was Campe Goethe erwiderte, als dieser den Pädagogen und Puristen in Karlsbad 1810 mit: »Wie convenirt Ihnen das Bad, Herr Rath?« begrüßt haben soll. Eine gemäße Antwort wird in Campes Köcher gewesen sein.12

Nein, Goethe und Schiller mussten dem Reiniger in Braunschweig eine Falle stellen. Und das taten sie mit diesem »Doppelvers«:

Der Purist.

Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern,

Nun so sage doch Freund, wie man Pedant uns verdeutscht.

Die Dichter in Weimar lauerten Campe auf, sie wollten ihn verführen, eine Verdeutschung preiszugeben, die in diesem literarischen Kontext zwangsläufig lächerlich wirken musste.13 Zudem wollten sie ihm zurufen – nach erfolgter Entblößung durch eine Verdeutschung: Das bist du selbst! Campe hat nämlich in seinem Verdeutschungswörterbuch von 1801 referiert,14 dafür sei bisher Schulfuchs üblich; er selbst habe Steifling vorgeschlagen, gibt aber zu erkennen, dass er mit diesen Vorschlägen eher unzufrieden sei. Deshalb nennt er in diesem Fall klugerweise keinen lexikalischen Ersatz, sondern formuliert 1797:

Antwort.

Gib, auf meine Gefahr, ihm deinen eignen Namen;

Trifft er nicht jegliche Art, Eine trifft er gewiß.

Der Sprachreiniger.

Das ist, auf den ersten Blick, eine grandiose Antwort. Du, Goethe, und Du, Schiller! Ihr seid es. Und alle, die das lesen und hören, sind es auch. Ich, Campe, bin es; aber ebenso ist es der, der hier vorträgt, und Sie, meine Zuhörer (und Leser), sind es auch.

Erst auf den zweiten Blick wird das Grandiose dieser Antwort von Nachdenklichkeit unterlaufen. Wörter einer Sprache, und Pedant ist spätestens seit dem 16. Jahrhundert in unserer Sprache, haben semantische Eigenschaften, die nicht so ohne weiteres von anderen Wörtern derselben Sprache getragen werden können. Sie haben, als Folge des Gebrauchs im soziokulturellen Verkehr, einen semantischen, und zwar denotativen und konnotativen Hof, der anderen Wörtern nicht zukommt. Sie haben zudem in der Aktualisierung durch den Einzelnen einen Beigeschmack, einen Geruch, der an dem Wort hängt. Steifling für Pedant – ach du liebe Zeit! Der Verdacht, dass eine, ich sage, einfache Übersetzung als Ersatz nicht funktionieren kann, wird also von Campe selbst in die Welt gesetzt. Dazu weitere Beispiele: Karikatur kann man nicht einfach durch Zerrbild ersetzen, wie das Campe tut. Zerrbild ist ein neues Wort, das Campe zur Welt bringt. Und Stelldichein vermag nicht an die Stelle von Rendezvous zu treten. Ich will jetzt nicht die sehr unterschiedlich motivierten Komposita analysieren, will aber hinzufügen, dass Stelldichein auf dem Niveau von Operettendeutsch verblieben ist.

3 Kritik an Campes wortpuristischer Spracharbeit

Nach der Darstellung der zeitgenössischen Kritik von Goethe und Schiller und meiner interpretativen Hinweise möchte ich, auch inspiriert durch die literarische Form der Kritik, grundsätzlicher auf Campes wortpuristische Spracharbeit eingehen. Anführen möchte ich noch ein Distichon Goethes und Schillers, das gleichfalls im »Musen-Almanach« (unter »Tabulae Votivae«) steht und folgendermaßen lautet:

Todte Sprachen.

Todte Sprachen nennt ihr die Sprache des Flakkus und Pindar,

Und von beiden nur kommt, was in der unsrigen lebt!

»Flaccus=Horaz«, schreibt Erich Trunz, der Kommentator der Hamburger Goethe-Ausgabe.15 Es ist ein cognomen, ein ›Beiname‹, Quintus Horatius Flaccus ist sein voller Name, und die Verfasser des Hexameters benötigen hier eine trochäische Struktur (Fláccus), nicht eine jambische (Horáz). Inhaltlich liegen die Weimarer im Gleichklang – nehmt alles nur in allem, d. h., zieht die literarische »klassizistische« Radikalisierung von dem Spruch ab – mit den Sprachgermanisten Horst Haider Munske und Alan Kirkness. Diese haben unter dem Titel: »Eurolatein. Das griechische und lateinische Erbe in den europäischen Sprachen« eine Vortrags- und Aufsatzsammlung herausgegeben, zu der sie im Vorwort schreiben: »Eurolatein – das ist eine Begriffsprägung, die das in den europäischen Sprachen lebendige Erbe des klassischen Altertums und der humanistischen Renaissance bezeichnet«, und sie formulieren dann weiter, dass »das Nächstliegende, der europäische Wortschatz im Mittelpunkt« stünde.16 Es gibt also ein europäisches Spracherbe, das den klassischen Sprachen verpflichtet ist. Die Literaten Goethe und Schiller argumentieren literarisch und setzen die Dichter-Namen Pindar und Horaz bzw. Flaccus metonymisch ein. H. H. Munske führt u. a. folgende Reihe an:17 Philologie, Biographie, Athlet, christlich, Asthma, Rhythmus und Definition. Ich greife die Beispiele Biographie und Rhythmus heraus, um Probleme deutlich zu machen, die sich Campe stellen.18 Für Biographie schreibt Campe ›Lebensbeschreibung‹ bzw. ›Lebenslauf‹, erinnert sich aber sofort daran, dass es kein »Beilegewort«, also Adjektiv dazu gebe, das man aber entbehren oder durch Umschreibung ausgleichen könne. Die Verdeutschung Campes reißt also lexikalische Lücken. Für Rhythmus setzt Campe ›Wort- oder Redeschritt‹, in der Tonkunst: ›Tact- oder Zeitmaß‹, allgemein auch ›Schönmaß‹. In einem Zusatz zitiert Campe den Mitstreiter Heinze, der ›Silbentanz‹ vorgeschlagen habe. In diesem Fall muss man von Terminologie-Vermehrung sprechen, die zur Terminologie-Häufung, ja zum Wirrwarr führt. Das Beispiel Rhythmus führt zudem deutlich vor Augen, dass die Wortbildungen, die Campe zum Ersatz vorschlägt, hier u. a. Wort– oder Redeschritt, sich nicht selbst erklären. Die Semantik der Komposita ist nicht dergestalt motiviert, dass diese an die Stelle des Originals treten können: Das Grundwort –schritt ist semantisch viel zu weit, und das Bestimmungswort Rede– grenzt es nicht hinreichend ein, weil es selbst eine schillernde Semantik hat.19

Ich selbst versuche in dem zitierten Band von Munske und Kirkness überdies zu zeigen,20 wie der semantische Stellenwert der eurolateinischen Wörter in den Sprachen Europas sehr unterschiedlich ist, und komme in diesem Zusammenhang auf die Mehrdeutigkeit von Akt zu sprechen, das im gegenwärtigen Deutsch folgende Bedeutungsstruktur aufweist: 1. ›Handlung‹: Akt der Willkür; 2. ›Zeremoniell‹: ein Festakt oder Staatsakt; 3. ›Rechtsvorgang‹: ein Hoheitsakt, ein Gnadenakt; 4. ›Aufzug‹: ein Drama in 5 Akten; 5. ›Nummer‹: ein Trapez- oder Drahtseilakt; 6. ›Kunst‹: ein männlicher oder ein weiblicher Akt; 7. ›Koitus‹: Milliardenakte (sagt ein Schriftsteller 1898), deren Sinn die Wollust ist; 8. ›Akte‹: im Akt blättern. Wollte man Akt verdeutschen, müsste man zugleich im Auge haben, dass die semantische Vielfalt nicht verlorengeht. Ersatzwörter Campe schlägt, gesehen auf seine Zeit, immerhin Handlung, Rede=übung bzw. Schulfeierlichkeit, Aufzug und Amtsverrichtung vor21 – können die vielschichtige Bedeutung des »fremden Wortes« sicher nur teilweise tragen. Was aber dann?

Jürgen Schiewe hat kenntnisreich die Voraussetzungen und Folgen für Campes »Sprachreinigungsprogramm« dargestellt. Dieses Programm ziele auf ein Bewusstsein, das zum politischen Handeln in fortschrittlicher Hinsicht fähig sei: »Der erste Schritt dazu wäre die Schaffung einer Sprache, die, vor allem im politischen Bereich, den Angehörigen aller Bevölkerungsschichten zugänglich, also gemeinverständlich ist.«22 Kritische Fragen an ein solches Programm drängen sich auf. Die wichtigste: Was heißt »allen Bevölkerungsschichten zugänglich«? Wie viel Prozent der Bevölkerung sind zu Campes Zeiten des Lesens mächtig, wie viel Prozent sind auf Vorlesen angewiesen, und wie viel Prozent haben keinerlei Zugang zu schriftlichen Produkten? Immerhin: Nach der französischen Revolution hatte die »Braunschweigische Zeitung« als Abonnenten 18 % Handwerker und 31 % Landleute (wobei allerdings die Angabe der Gesamtauflage fehlt).23 Aber – der Zugang zu einer Zeitung ist das eine; ein anderes ist der Gebrauch oder Besitz eines zweibändigen, 675 Seiten umfassenden Fremdwörter- und Verdeutschungsbuches im Groß-Oktav. Die Weitergabe durch mündliche Kommunikation stieß offensichtlich an Grenzen. Neue Formen der Kommunikation hätten erarbeitet werden müssen; Buch- und Zeitschriftenproduktion konnten solchen weitreichenden kommunikativen Bedürfnissen kaum nachkommen.

Wenn in einer neueren Publikation24 Fraternité und Revolution als Beispiele angeführt werden, die durch gelungene und durchsichtige Wortbildungen ersetzt werden, so zeigen eben diese Beispiele die Problematik des Fremdwortpurismus von Campe auf. Zunächst: Fraternité ist kein Fremdwort, sondern Teil eines französischen Schlagworts, das als Mehrwortlexem vorliegt: liberté, égalité, fraternité. Zu Herzen gehend ist Campes Erzählung, wie er seinen Landsleuten von der französischen Revolution im August 1789 berichtet und das neue »liebreiche Betragen der neuen Republikaner« schildert. Am Ende fragt er sich selbst: »Wie fange ich es denn nun an […], um ihnen begreiflich zu machen, was das sei? Am Ende wagte ich’s und prägte Brüderlichkeit25 Ein französisches Schlagwort, wenn es eine kultivierende und aufklärende Bedeutung hat, soll man übersetzen; aber es ist kein Wort, was »unserer Sprache aufgedrungen« ist – was Campe nahelegt, wenn er es in sein Wörterbuch von 1801 aufnimmt. Und zudem: Brüderlichkeit als Lehnbildung zu fraternité ist seit 1776 in der deutschen Sprache, geschaffen von dem Schweizer Johann Kaspar Lavater – wie die Wörterbücher von Hermann Paul und von den Grimms ausweisen.

Ein weiteres Beispiel, das genannt wird, ist die Lehnbildung Umwälzung für Revolution. Campe führt in seinem Wörterbuch u. a. Zitate von Herder und Kant an und zitiert zudem Staatsumwälzung für Staatsrevolution. Er verweist auf die Gegnerschaft von Adelung, »weil dieses [also: Umwälzung und Staatsumwälzung] nicht den Begriff der Sache ausdruckt«26 – und Adelung darf sich auf längere Sicht im Recht sehen. Denn Revolution, im Deutschen aus dem Lateinischen übernommen und semantisch geprägt durch die Auseinandersetzung mit der Révolution française, hat eine positive, nach vorne weisende Konnotation, die dem Wort Umwälzung fehlt. Zudem gibt es für Revolutionär als Substantiv und, klein geschrieben, als Adjektiv, keine akzeptablen Pendants. Die Verdeutschung reißt also wiederum lexikalische Lücken. Das Verb revolutionieren wird z. B. durch umwälzen oder eine Umwälzung erregen recht unzureichend ersetzt. Die Französische Revolution ist aber durch nichts zu ersetzen, übrigens auch die friedliche Revolution von 1989 in der DDR nicht. Und die Mehrdeutigkeit von Revolution (z. B. digitale Revolution usw.) habe ich noch gar nicht angesprochen. Sie ist durch einen »Ersatz« nicht einzuholen.

4 Was bleibt

Ich habe mich erdreistet, Campes fremdwortpuristische Arbeit einer Kritik zu unterziehen, die auch hehre Absichten einbezieht und an ihren Auswirkungen und praktischen Ergebnissen misst. Auch Spätaufklärer, die der Volksaufklärung verpflichtet sind, müssen sich dieser Kritik stellen.

Wer zum Beispiel das lebendige Spracherbe des klassischen Altertums und der Renaissance durch Verdeutschung ersetzen will, weil er diesen Wortschatz als »aufgedrungen« bezeichnet, der muss sich hinterfragen lassen. Volksaufklärung ist Teilhabe und somit Erklärung, aber nicht: Ersatz.

Und damit komme ich nicht zum Ende, sondern zu einem Abschluss, der Campe und seine lexikalische und lexikographische Arbeit insgesamt würdigt. Campe ist derjenige, der in zwei Anläufen, in seinen Wörterbüchern von 1801 und 181327, die »fremden Wörter«, die die deutsche Sprache bereichern, erklärt, kritisch und textuell diskutiert und, auch die Versuche anderer einbeziehend, durch Verdeutschung zu ersetzen trachtet. Diese letztere Bewegung, und nur diese, war Gegenstand der Kritik. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass von über 3000 vorgeschlagenen Verdeutschungen Campes über 200 (z. T. auch von anderen vorgegebene) in den deutschen Wortschatz aufgenommen wurden, vor allem mit einer neu akzentuierten Bedeutung neben dem »fremden Wort«: z. B. altertümlich und antik, Erdgeschoss und Parterre, fortschrittlich und progressiv, Sammelwerk und Kompilation sowie Zerrbild und Karikatur. Es wäre eine Aufgabe der Forschung zu erkunden, warum die »Aufnahmebereitschaft«28 des Publikums bei diesen Beispielen existierte. Zerrbild z. B. stellt eine kritische Variante von Karikatur lexikalisch dar und trifft damit eine wichtige Teilbedeutung des »fremden Wortes«, die Schriftsteller wie Wieland, Jean Paul und Goethe wohlwollend übernehmen.29

Campe ist zudem derjenige, der als Erster in Deutschland eine Wörterbuchwerkstatt einrichtet und zusammen mit Theodor Bernd, sein Name muss in diesem Zusammenhang unbedingt genannt werden, ein fünfbändiges deutsches Wörterbuch von 1807 bis 1811 publiziert. Dieses Wörterbuch, »veranstaltet und herausgegeben« und zudem redigiert von Campe, erweitert das Werk Adelungs wesentlich. Es schafft mit einer nicht allen philologischen Regeln entsprechenden Fülle von Belegen ein literarisch und gebrauchssprachlich unterfüttertes Werk, das der sprachkultivierenden Lexikographie zugerechnet werden muss. Das ist ein nicht geringes Verdienst eines Sprachforschers, der im Hauptberuf Pädagoge und Schriftsteller war.

Joachim Heinrich Campe, der »Edukationsrath« aus Braunschweig, hat sich um die deutsche Sprache verdient gemacht. Sein Fremdwortpurismus verfehlt in seinem Bestreben, Ersatz, Verdeutschung zu bieten, in vielen Teilen das Ziel – und ist doch in seiner erklärenden und diskursiven Form sowie auch in seinen eigensemantischen, in den Wortschatz aufgenommenen Lehnbildungen eine Bereicherung der deutschen Sprache. Dieses Paradox gilt es auszuhalten.

Fußnoten

1 Wiesbaden 1996.

2 Campe, Joachim Heinrich (1801): Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Bd.1.2. Braunschweig, S. 663.

3 Braunschweig 1807–1811.

4 Lang-Groth, Imke (2012): Auf dem Weg zu einem Belegwörterbuch. Der Beitrag von Joachim Heinrich Campe und Theodor Bernd. Bielefeld (= Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 16).

5 Zur Bibliographie vgl. Henne, Helmut (Hg.) (2001): Deutsche Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Einführung und Bibliographie. 2., erweiterte Aufl. Hildesheim [usw.], S. 201–204.

6 Vgl. Henne, Helmut: »Braunschweigische Wörterbuchwerkstatt – Joachim Heinrich Campe und sein(e) Mitarbeiter.« In: Visionäre Lebensklugheit (wie Anm. 1), S. 215–224, insbes. S. 215–217.

7 Musen-Almanach für das Jahr 1797. Hrsg. von Friedrich Schiller. Tübingen. – Neudruck Leipzig 1980.

8 Ich zitiere die Weimarer »Xenien« nach dem Musen-Almanach für das Jahr 1797, S. 220, 237, 182 (s. Anm. 7), und die Braunschweiger Doppelverse nach dem 7. Stück der Beiträge (1797, S. 179–182); vgl. (wie Anm. 6), S. 216 f.

9 Goethe, Johann Wolfgang von (1981): Goethes Werke. Bd. 1. Hrsg. von Erich Trunz. München, S. 632.

10 Schiller, Friedrich (1992): Gedichte. Hrsg. von Georg Kurscheidt. Frankfurt am Main, S. 1285.

11 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von (1981): Goethes Werke. Bd. 2. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München, S. 415.

12 Vgl. Leyser, Jakob Anton (1896): Joachim Heinrich Campe. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung. Bd. 1, Braunschweig, S. 83. Der Wortlaut der Begrüßung ist unsicher.

13 Vgl. Schmidt, Erich/Suphan, Bernhard (Hgg.) (1893): Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- u. Schiller-Archivs. Weimar, S. 156; die Verfasser verweisen auf das Deutsche Wörterbuch Bd. 7, 1898, Sp. 1522, wo das Weimarer Xenion und Campes Antwort (s. v. Pedant) zitiert werden; u. a. verweisen sie auch auf Grimm, Wilhelm (1881): Kleine Schriften. Bd. 1. Berlin, wo Wilhelm schreibt: »Versucht man eine Übersetzung, so klingt sie hölzern und lächerlich.«

14 Vgl. Anm. 2.

15 S. 638 (wie Anm. 9).

16 Tübingen 1996 (= Reihe Germanistische Linguistik 196), S. V.

17 S. 89 (wie Anm. 16).

18 Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke (wie Anm. 2).

19 Vgl. auch Dieckmann, Walther (2012): Wege und Abwege der Sprachkritik. Bremen, S. 108 ff., der die »kommunikative Brauchbarkeit« von Campes Ersatzwörtern diskutiert und, an Beispielen erläutert, bezweifelt.

20 Henne, Helmut: »Das Eigene im Fremden. Vom semantischen Stellenwert der Wörter.« In: (wie Anm. 16), S. 275–283.

21 S. 126 (wie Anm. 2).

22 Schiewe, Jürgen (1998): Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart. München, S. 131.

23 Polenz, Peter von (1994): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 2. 17. und 18. Jahrhundert. Berlin/New York, S. 39.

24 Kilian, Jörg/Niehr, Thomas/Schiewe, Jürgen (2010): Sprachkritik. Ansätze und Methoden der kritischen Sprachbetrachtung. Berlin/New York, S. 22–27.

25 A. a. O., S. 23. Die Verfasser beziehen sich auf Campes »Proben einiger Sprachbereicherung« von 1790. Das Wörterbuch von 1801 nimmt diesen Artikel, leicht verändert, auf.

26 S. 590 (wie Anm. 2).

27 Vgl. Anm. 2 für das Wörterbuch von 1801. Die 2. Aufl.: Neue stark vermehrte und durchgängig verbesserte Ausgabe. Braunschweig 1813. – Diese Ausgaben unterscheiden sich nicht in Bezug auf die zitierten Beispiele der Verdeutschung.

28 Kirkness, Alan (1975): Zur Sprachreinigung im Deutschen 1789–1871. Eine historische Dokumentation. Bd. 1. Tübingen, S. 168. – Die vorstehenden Zahlen nach Kirkness a. a. O., S. 156–167; vgl. auch Orgeldinger, Sibylle (1999): Standardisierung und Purismus bei Joachim Heinrich Campe. Berlin/New York (= Studia Linguistica Germanica 51), insbes. S. 232–379.

29 Skeptisch zu einem solchen Unterfangen, die Aufnahmebereitschaft zu erklären, äußert sich Eisenberg, Peter (2012): Das Fremdwort im Deutschen. 2., überarbeitete Auflage Berlin [usw.], S. 137.

Prof. em. Dr. Helmut Henne
Institut für Germanistik
Technische Universität Braunschweig
Bienroder Weg 80
38106 Braunschweig