Ausgabe: Der Sprachdienst 3/2015

Stressfaktor Selektor

© CC-Lizenz

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Ein Wort ist in der vergangenen Zeit häufiger verwendet worden, ein Wort, das im Zusammenhang mit den Geheimdiensten NSA und BND, der Überwachung von Menschen und ihrer Kommunikation steht: Selektoren. Ein Fachwort, der Duden kennt es nicht, und doch kann man sich besonders im Kontext entfernt vorstellen, um was es sich handelt. Selektoren sind »eine Art Grundprinzip von Abhörgeheimdiensten« (FAS, 10.05.2015, S. 38), nämlich die Merkmale und Kriterien, nach denen die unermesslich großen Datenmengen, die abgehört werden, gefiltert und sortiert werden. Diese Selektoren sind sehr vielfältig: Sie bestehen entweder aus einem einzigen Merkmal, z. B. einer einzelnen Telefonnummer, oder einem ganzen Merkmalskomplex, etwa allen Telefonnummern und Durchwahlen einer Firma, so dass mit nur einer kleinen Menge an Selektoren große Mengen von Daten erfasst bzw. abgehört werden und ‒ noch erschreckender ‒ weite Teile der Bevölkerung betroffen sein können.

Soweit zur Inhaltsseite von Selektoren, im Weiteren soll es um ihre Formseite gehen: um das Wort als solches, das wie so viele andere auf das Suffix -or bzw. -(a)tor endet. Dieses Suffix ist äußerst produktiv, und so gibt es einerseits bereits zahlreiche Substantive auf diese Endung, andererseits werden laufend neue gebildet bzw. können problemlos gebildet werden. Die Wortbildung erfolgt deverbal, das heißt durch Anhängen der Endung wird aus einem Verb ein Substantiv. Dieses stellt dann zumeist ein Nomen agentis dar, also ein Substantiv, das den Träger einer Handlung bzw. eine handelnde Person bezeichnet. Ein im Deutschen häufiges Suffix dieser Art ist -er: Aus fahren wird durch Anhängen der Endung -er Fahrer, aus lehren wird Lehrer, aus backen wird Bäcker. Dies funktioniert nicht ausschließlich, so wird aus kochen zwar ein Kocher, dies ist jedoch nicht die handelnde Person ‒ das wäre der Koch ‒, sondern ein Gerät, das der Handlung dient. Genauso wird auch durch Anhängen des Suffixes -or bzw. -(a)tor bei einigen Verben nicht die handelnde Person bezeichnet, sondern eine entsprechende Gerätschaft, mit der die Handlung durchgeführt wird. Auf diese Weise funktionieren fast alle Wörter auf die Endung -(a)t-or und es fällt in vielen Fällen leicht, das zugrunde liegende meist lateinische Wort zu identifizieren und dadurch auch das Substantiv zu verstehen. Hier einige Beispiele: Moderator zu moderieren, Reflektor zu reflektieren, Kommentator zu kommentieren, Organisator zu organisieren, Inspektor zu inspizieren, Kalkulator zu kalkulieren, Reformator zu reformieren, Simulator zu simulieren, Generator zu generieren, Illustrator zu illustrieren und so fort. Nun sind nicht alle der Ausgangsverben heute noch im Deutschen gebräuchlich, und so muss bei einigen der Schritt über das Lateinische getan werden, um die ursprüngliche Bedeutung des Substantivs zu erfassen, die sich oftmals bereits weiterentwickelt hat und in Verbindung mit dem Wort ein fester Bestandteil unseres Wortschatzes ist. Das Wort Lektor beispielsweise geht auf legere ›lesen‹ zurück und bezeichnete ursprünglich einen Leser bzw. Vorleser, heute dagegen umfasst der Tätigkeitsbereich eines Lektors weitaus mehr als lesen. Ein Konditor stellt heute feines, meist süßes Gebäck her, ursprünglich war er für die Zubereitung eher würziger Speisen zuständig, von lateinisch condire ›lecker zubereiten‹. Ein Autor ist ein Schriftsteller, ein Verfasser von Schriftstücken; das Wort geht auf lateinisch augere zurück, das die Bedeutung ›wachsen machen, mehren‹ trägt. Der Äquator ist der größte Breitenkreis der Erde; das Wort wird gebildet zu lateinisch äquare ›gleichmachen‹. Der Terminator begrenzt im eigentlichen Wortsinn etwas, zu lateinisch terminare ›abgrenzen‹, er wird seit Veröffentlichung des gleichnamigen Films aber zumeist mit Arnold Schwarzenegger – mit Lederkluft, Sonnenbrille und Pistole – in Verbindung gebracht. Auch bei Motor (zu lateinisch movere ›bewegen‹), Sektor (zu lateinisch secare ›sezieren, zerschneiden, zerlegen‹) und Faktor (zu lateinisch facere ›tun, machen, handeln‹) ist die ursprüngliche Bedeutung allenfalls noch zu erahnen, sie tritt hinter der in unserem Lexikon verankerten neuen Bedeutung zurück.

Einen Stolperstein gibt es in dieser Logik jedoch: Der Alligator geht nicht etwa auf ein lateinisches Wort alligare zurück ‒ nein, hier liegt das spanische el lagarto ›die Eidechse‹ zugrunde. Doch auch dieses Wort geht auf das Lateinische zurück: lacertus bedeutet ›Oberarm‹ oder wohl eigentlich ›die Biegsame, die Bewegliche‹.

Um also auf das Ausgangswort zurückzukommen: Dem Selektor liegt das lateinische Wort seligere ›auswählen‹ zugrunde; ein Selektor selegiert dementsprechend etwas (oder auch: selektiert, wobei dieses Wort wie auch Selektion unter Umständen negative Assoziationen zu den Vorgängen in den Konzentrationslagern hervorruft), wählt dem Wortsinn nach also aus und sortiert. Dass der Kreis der Betroffenen, sozusagen die Auserwählten, sich dadurch auf einige wenige beschränken würde, davon ist nicht auszugehen ‒ im Gegenteil: Diese Abhörmethode erscheint umso willkürlicher und unreflektierter, als die Zahl der Betroffenen um ein Vielfaches höher ausfällt, als das Wort vermuten lassen würde.

Frauke Rüdebusch