Ausgabe: Der Sprachdienst 3/2017

Zug um Zug

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Die Bundestagswahl rückt näher, und damit ist die Liste der Komposita mit einem Eigennamen als erster Bestandteil wieder um einiges angewachsen. Nach dem Trump-Effekt, dem Merkel-Face1 und dem Schulz-Effekt hört man nun vom (Kanzler-)Kandidatenfaktor, konkreter vom Merkel-Faktor und vom Schulz-Faktor. Allein all diese wären schon der genaueren Betrachtung wert; facettenreicher als der Schulz-Faktor ist jedoch der Schulz-Zug, von dem in letzter Zeit häufig die Rede war und der dabei in bunten Farben schillert, denn das Wort Zug lädt nicht nur aufgrund seiner Bedeutungsvielfalt zu den unterschiedlichsten Wortspielen ein. So soll es hier ein wenig ausführlicher unter die Lupe genommen werden.

Das Substantiv Zug ist bereits seit dem 9. Jahrhundert belegt und wurde zum Verb ziehen, althochdeutsch ziohan, gebildet, zurückgehend auf westgermanisch tugi; im eigentlichen, ursprünglichen Sinn handelt es sich also um das Ziehen, etwas »hinter sich her in der eigenen Bewegungsrichtung in gleichmäßiger Bewegung fortbewegen«. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich hieraus weitere und sehr vielfältige Bedeutungen ergeben, die teilweise mit dem eigentlichen Wortsinn nicht mehr viel zu tun haben. Dazu gehören die Wanderung, Reise oder Fahrt (auch Kriegs- oder Kreuzzug), das Bewegen einer Schachfigur (der Schachzug; hierzu auch allgemeiner Spielzug), das Einziehen des Atems (Atemzug) und das kräftige Schlucken eines Getränks (ein Glas in einem Zug leeren). Die Benennung der stetigen Luftbewegung als Luftzug findet sich seit dem 16. Jahrhundert, ebenso das mit Feder oder Stift Gezogene, der Schriftzug. Daraus entwickelte sich im 17. Jahrhundert im übertragenen Sinn die Charaktereigenschaft (Charakterzug). Seit der gleichen Zeit wird der marschierende Teil einer Truppe als Zug bezeichnet, daran schließt sich dann Mitte des 19. Jahrhunderts die Wagenreihe mit einem Antriebsfahrzeug an: der Eisenbahnzug, kurz Zug. Hierbei handelt es sich eigentlich um ein Bedeutungslehnwort vom englischen train. Dieses Wort geht über das französische train auf das Lateinische zurück: trahere hat die Bedeutung ›ziehen‹.

Es ist also ein großes Bedeutungsspektrum, das das Wort Zug mittlerweile abdeckt, und hier ist nur ein kleiner Ausschnitt repräsentiert. Festgestellt hat dies auch der amerikanische Schriftsteller Marc Twain; er schreibt:

»Strenggenommen heißt Zug: Ruck, Zerren, Luftstrom, Prozession, Marsch, Vormarsch, Schar, Richtung, Feldzug, Eisenbahn, Karawane, Durchreise, Kolbenhub, Anflug, Linie, Schnörkel, Charaktereigenschaft, Gesichtsbildung, Merkmal, Schachbewegung, Orgelklappe, Gespann, Rauchen, Hang, Schublade, Neigung, Inhalation, Veranlagung; aber das, was es nicht bedeutet, wenn alle seine legitimen Anhängsel angefügt sind, hat noch niemand entdeckt.«

(Englisches Original: Mark Twain, »The awful German Language«, 1881)

Doch nicht nur die Bedeutungsvielfalt scheint unermesslich – nein, auch in der Bildsprache hat das Substantiv Zug mehr oder minder kreative Züge (ja!) angenommen. Dessen hat sich auch die Presse im Zuge (oh ja!) der Berichterstattung über die Vorgänge in der Politik vor der Bundestagswahl im September bedient, und in Bezug (auch hier!) auf den Kanzlerkandidaten Martin Schulz gefühlt alle Metaphern, Vergleiche und Wortspiele ausgeschöpft, die mit und um das Wort Zug (mit der Bedeutung des Eisenbahnzugs) gebildet werden können. Zum Hintergrund: Im März 2017 präsentierte die SPD Martin Schulz, von 2012 bis 2017 Präsident des Europaparlaments, als ihren Kanzlerkandidaten. Dies kam so unverhofft und überraschend, dass die Umfragewerte für die SPD, die bis dahin keinen geeigneten Kandidaten zu finden schien, sprunghaft anstiegen: der Schulz-Effekt zog (und wieder!) tausende neue Mitgliedschaften in der SPD nach sich. Das Bild des Schulz-Zuges entstand; praktisch, denn dies ließ den Berichterstattern viel kreativen Spielraum. Einige Beispiele: Kurz nach Ernennung des Kanzlerkandidaten nahm der Schulz-Zug Fahrt auf und war, während er zum Kanzleramt rollte, nicht zu bremsen. Auf dem Weg dorthin machte er Station in verschiedenen Städten und Martin Schulz präsentierte sich als Mann des Volkes. Doch dann die Wende: Es begann damit, dass der Schulz-Zug bei der Landtagswahl im März nicht im Saarland einfahren konnte; aufgrund von Störungen im Betriebsablauf wurde er ausgebremst und verlor rasant an Geschwindigkeit. Schließlich legte er eine Vollbremsung hin: Dabei entgleiste der Schulz-Zug, dennoch fuhr Lokführer Schulz einfach weiter. Aber der Schulz-Effekt war verpufft: Nun steht der Schulz-Zug auf dem Abstellgleis, nach dem Saarland ist er auch in Nordrhein-Westfalen endgültig abgefahren, in Schleswig-Holstein, an der Küste, kenterte er gar – wie auch immer dies vonstatten gegangen sein mag. Wer nun noch im Zug sitzt, fährt in die falsche Richtung: Aus dem Schulz-Zug ist ein Trauerzug geworden.

Ein paar Monate sind es noch bis zur diesjährigen Bundestagswahl: Welche Wege der Schulz-Zug bis dahin nehmen wird, ist noch nicht absehbar. Zu wünschen ist allerdings, dass die Wahl Wahl bleibt und nicht zu einer Ziehung wird.


1 Merkels Gesichtsausdruck, als Donald Trump bei einer gemeinsamen Konferenz erwähnte, sie und er (also Deutschland und die USA) hätten, was das Abgehört-Werden betrifft, einiges gemeinsam.