Ausgabe: Der Sprachdienst 1–2/2025 

Sinnvolle Steigerung von Adjektiven

[F] Warum werden einige Adjektive gesteigert, obwohl es manchmal gar keinen Sinn ergibt? Wie kann z. B. etwas, das voll, ist, voller sein als etwas anderes, das ebenfalls voll ist? Und unterschiedliche Dinge ändern sich doch nicht, wenn man sie als unterschiedlichste Dinge bezeichnet.

[A] Sie haben recht: Auch wenn es eine Eigenschaft von Adjektiven ist, steigerbar zu sein – so sind fast alle Adjektive rein grammatikalisch steigerungsfähig –, ist nicht jede Steigerungsform (in der Sprachwissenschaft Vergleichsform genannt) auch inhaltlich sinnvoll. Dennoch haben auch diese semantisch fragwürdigen Steigerungen in einigen Fällen durchaus eine Berechtigung.

Vergleichsformen dienen dazu, Dinge oder Lebewesen miteinander in ein Verhältnis zu setzen. Die nach der Grundstufe erste Steigerungsstufe ist der Komparativ; er wird benutzt, wenn etwas (oder jemand) einen ungleichen Grad einer bestimmten Eigenschaft aufweist: Der Hase ist klein, aber die Maus ist kleiner. Die höchste Steigerungsstufe, der Superlativ, zeigt an, dass eine bestimmte Eigenschaft im Vergleich mit anderen (Personen, Objekten, Eigenschaften, …) am stärksten ausgeprägt ist: Von den drei Schwestern ist Barbara am ältesten; Die graue Maus ist im Vergleich mit der braunen und der weißen am kleinsten.

Es gibt jedoch Adjektive, bei denen eine Steigerung inhaltlich sinnlos erscheint. In der Sprachwissenschaft spricht man dann von absoluten Adjektiven, welche semantisch keine Steigerung erlauben, da sie Eigenschaften im Sinne einer unveränderlichen Qualität bezeichnen (etwa einzig, endgültig, rund, leblos) oder semantisch bereits die höchste Steigerungsstufe erreicht ist (erstklassig, hauptsächlich, total, maximal; voll, leer, still etc.). So kann eine mündliche Überlieferung nicht noch mündlicher sein als eine andere mündliche Überlieferung. Auch tot zu sein, ist absolut zu sehen, niemand ist toter als jemand anders. Ein fünfeckiger Karton kann nicht noch fünfeckiger oder am fünfeckigsten sein. Das Ergebnis der Rechenaufgabe ist falsch, kann aber nicht falscher oder am falschesten von mehreren falschen Lösungen sein usw.

Trotzdem gibt es einige Fälle, bei denen ein Adjektiv gesteigert wird, obwohl es seiner Bedeutung nach keine Steigerung erlauben dürfte. Etwas, das leer oder auch voll ist, kann grundsätzlich nicht noch leerer oder noch voller werden oder gar am leersten oder vollsten sein. Dinge, die unterschiedlich sind, können genau genommen nicht noch unterschiedlicher sein. Und doch hört man derartige Formulierungen des Öfteren: »Dein Nikolausteller ist viel voller als meiner!« »Der Kartoffelsack ist heute leerer als gestern.« Und auch wenn es um die Formulierung in einem Arbeitszeugnis geht, macht es einen Unterschied, ob von »vollster« oder lediglich »voller« Zufriedenheit die Rede ist. Das bedeutet also, dass die Sinnhaftigkeit von gesteigerten absoluten Adjektiven kontextabhängig ist: Zwar können sie, wie leer und voll, bereits den geringsten bzw. höchsten Grad ausdrücken; wenn sie jedoch — und hierin liegt der Grund ihrer Berechtigung — in übertragener oder relativer Bedeutung verwendet werden, ist es durchaus möglich und auch semantisch unzweifelhaft, sie in ihrer Steigerungsform zu verwenden, denn dies verstärkt ihre Wirkung noch. Zum Teil ergeben sich dadurch sogar Bedeutungsnuancen, die die Adjektive in ihrer Grundform nicht wiederzugeben vermögen: »Auf dem Platz haben sich Menschen aus unterschiedlichen Ecken der Welt versammelt« ist natürlich ein völlig korrekter Satz. Die Vielfalt dieser Menschen, ihre Mannigfaltigkeit, wird jedoch viel stärker transportiert, wenn das Adjektiv gesteigert wird: »Auf dem Platz haben sich Menschen aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt versammelt.« Und so erhalten auch Steigerungsformen einiger absoluter Adjektive ihre Berechtigung.