Ausgabe: Der Sprachdienst 6/2023

100 Jahrhundertwörter

Ohne Worte und Wörter gibt es keine Geschichte

Buchinfo

Hans Jürgen Heringer
100 Jahrhundert Wörter

Kartoniert, 142 Seiten, ISBN: 978-3-8260-8197-2
Königshausen & Neumann

Geschichte ist immer in Worten gefasst. Und Wörter fassen darum Geschichte. Auch Historiker deuten Texte als Quellen. Sie mögen ihre Methoden haben. In diesem Buch werden 100 Schlüsselwörter des vergangenen Jahrhunderts mit linguistischen Methoden analysiert. Ihre Bedeutung und Verwendung im weiten Sinn wird empirisch untersucht und dargestellt.

In seiner jüngsten Publikation befasst sich der emeritierte Sprachwissenschaftler, Sprachkritiker und Sprachphilosoph Hans Jürgen Heringer mit 100 Wörtern, welche die Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts »fassen«. Heringer, Professor emeritus für Gemanistische Linguistik und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Augsburg, spannt auf 142 Seiten einen lexikalischen Bogen vom ausgehenden 19. Jahrhundert (Entwelschung, Vatermörder, Höhere Töchter u. a. m.) bis in die frühen 2000er-Jahre, für die Wörter wie Avatar, Rechtschreibreform oder Chancengleichheit stehen.

Welchen Kriterien ein Jahrhundertwort entsprechen muss, lässt Heringer weitgehend offen. Leicht hat er sich seine zwangsläufig subjektive Auswahl trotzdem nicht gemacht. Für ihn war entscheidend, welche Wörter schon einmal in einem vergleichbaren Kontext in waren und über welche er in der ihm eigenen »Kürze und Pointiertheit« schreiben kann. Letzteres bedeutet für ihn auch, Fragen zu formulieren und diese bewusst unbeantwortet zu lassen. Damit zwingt er die Lesenden dazu, ihre eigenen Gedanken anzustellen. Wer Heringer liest, muss in sich selbst »weiterlesen«.

Obwohl Heringer (Jg. 1945) »mit dem ganzen Nazikram nichts zu tun« hatte, fällt ins Auge, dass gut ein Drittel der von ihm erörterten Jahrhundertwörter der Zeit der beiden Weltkriege, der NS-Diktatur und den unmittelbaren Nachkriegszeiten zugerechnet werden kann (Trommelfeuer, Notgeld, Ahnenerbe, KZ, Trümmerfrauen u. v. m.). Überraschend kommt das nicht. Wer zu den ersten Nachkriegsgenerationen gehört, muss diese Zeiten nicht selbst miterlebt haben, um nicht durch sie und ihre Folgen nachhaltig geprägt worden zu sein. Auch deutlich repräsentiert: die 60erund 70er-Jahre, in denen die Schah- Demo (kein eigener Eintrag) »eine Art Erweckungserlebnis« für ihn war und für die Wörter wie Gastarbeiter, 68er oder Sit-in stehen. Geschichte ist eben nicht nur das, was andere mündlich und schriftlich in Worte gefasst haben, sondern immer auch ein ganz persönliches Erlebt-Haben.

Als exemplarisch für Heringers Wandern zwischen Vergangenheit und Gegenwart sei der Beitrag zu Sonderbehandlung herausgegriffen: Als »bürokratisches Horrorwort«, das für die »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) steht, darf es Heringer in seiner Sammlung nicht fehlen – auch wegen seiner modernen Verwendung im »unschuldigen Sinne« von ›besondere, meist jemanden bevorzugende Behandlung‹. Hier korrigiert er lexikonkritisch die Beschreibung des Wortes in Wörterbüchern, weil es ihm eben »kein Tarnwort oder Euphemismus« war, sondern ein angesichts der erschreckenden realhistorischen Fakten »bürokratisches Normalwort, bei dem jeder der Beteiligten wusste, worum es ging«. Willkürliche Massentötung als bürokratischer Akt. Heringer schreibt dazu: »Wenn wir das Wort einfach nur im zweiten [= modernen Sinne; M. W.] verstehen, verstehen wir überhaupt nichts.« Unausgesprochen und trotzdem vorhanden ist hier der Bezug zur unmittelbaren Gegenwart, wo das Wort Spezialoperation gezielt verbreiteten Schrecken als normalen, rechtmäßigen Akt hinzustellen versucht.

Die neueste Zeit bleibt in Heringers »100 Jahrhundert Wörter« ausgeklammert. Das ist eben so bei Rückblicken in die Wort- und Realgeschichte. Wer Gendergerechtigkeit, Klimawandel oder KI in seiner Sammlung sucht, wird enttäuscht, wobei Heringer das Thema Künstliche Intelligenz in einer eigenen Publikation behandelt (Hans Jürgen Heringer, KI und Menschen, Würzburg 2023). Dass auch diese Wörter »Geschichte fassen« werden, ist – wenn nicht schon Tatsache – abzusehen. Und weil Geschichte und Sprachentwicklung eng miteinander verwobene Prozesse sind, wird es bei Heringers Sammlung nicht bleiben, wie ihm voraus schon vergleichbare Zusammenstellungen publiziert wurden. Die 100 Jahrhundert Wörter müssen und dürfen fortgeschrieben werden. Das wird ganz im Sinne des Autors sein, denn »ohne Worte und Wörter gibt es keine Geschichte«.

Matthias Wermke