Der Sprachdienst 6/2020
Alltagssprache im Wandel – Der Wortschatz wächst aber nicht nur
Zum Buch
Dudenredaktion (Hg.)
Duden – Die deutsche Rechtschreibung. Das umfassende Standardwerk auf der Grundlage der aktuellen amtlichen Regeln, 2020
Hardcover, 1 294 Seiten, 28. Aufl. ISBN: 978-3-411-04018-6
- Rund 148 000 Stichwörter, davon 3 000 Neuaufnahmen
- Informationen zu Grammatik, Aussprache, Bedeutung der Stichwörter
- Mit der Dudenempfehlung, wenn mehrere Schreibvarianten möglich sind
- Hilfe beim Lösen von Zweifelsfällen
- Hinweise zum geschlechterbewussten Sprachgebrauch
- Nach dem aktuellen Stand der Rechtschreibregelungen
Zusätzlich erklären wir Rechtschreib- und Zeichensetzungsregeln, wie ein Text korrigiert wird, wie ein Wort in den Duden kommt, welche Wörter am häufigsten verwendet werden und vieles mehr.
Dr. Konrad Duden, ein Gymnasiallehrer aus Bad Hersfeld, veröffentlichte in Leipzig am 7. Juli 1880 unter dem Titel Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der Deutschen Sprache das erste Rechtschreibwörterbuch. Er verstand es als ein wichtiges Hilfsmittel zur Abbildung von Wörtern mittels des alphabetischen Schriftsystems. Damit war sozusagen der »Ur-Duden« mit 27 000 Stichworteinträgen geschaffen. Nach dem Tod von Konrad Duden im Jahr 1911 hatte der Dudenverlag die Herausgabe des anerkannten Wörterbuchs für die deutsche Orthografie übernommen (gleichzeitig Band 1 der zwölfbändigen Duden-Reihe).
Sprache ist ständig im Wandel und Wortschatz ist immer im Fluss, denn eine Sprachgemeinschaft muss ihren Wortschatz laufend neuen Gegebenheiten anpassen, wobei die Anzahl der aufgenommenen »neuen« Wörter die der aus dem Gebrauch gefallenen deutlich überwiegt. So erstaunt es nicht, dass knapp 50 Jahre nach dem Erscheinen von Konrad Dudens Wörterbuch die 10. Auflage (1929) bereits 66 000 Worteinträge enthielt. Wiederum mehr als verdoppelt hatte sich die Zahl der Stichwörter in der 25. Auflage im Jahr 2009 (135 000 Stichwörter), darunter 5 000 Neueinträge, u. a. zur Bezeichnung des damals geschaffenen Phänomens zur Stimulation des Verbraucherverhaltens: Abwrackprämie. In die beiden folgenden Auflagen wurden jeweils 5 000 neue Stichwörter aufgenommen, um die sprachliche Gegenwartskultur der Gesellschaft, Medien, Wissenschaften, Technik oder Wirtschaft abzubilden, in die 26. Auflage (2013) u. a. der QR-Code und in die 27. Auflage (2017) u. a. die Willkommenskultur. Der Rechtschreib-Duden, der etwa alle drei bis fünf Jahre neu aufgelegt wird, beansprucht allerdings nicht, den Wortschatz der deutschen Sprache komplett wiederzugeben, wenngleich in eine neue Auflage mehr Wörter aufgenommen denn gestrichen werden. Schauen wir uns diesen Duden etwas genauer an.
Wörter sind ein universelles Konstruktionsmerkmal von Sprachen; es handelt sich um definierte Laut- bzw. Buchstabensequenzen mit fester Bedeutung, die es korrekt zu sprechen (phonetischer Wortschatz) und zu schreiben (orthografischer Wortschatz) gilt. Man unterscheidet zwischen einem lexikalischen Wort (Wort mit einer zugeschriebenen Bedeutung) und einem syntaktischen Wort (konkrete Wortform etwa mit Kasus und Numerus und seine syntaktische Funktion im Satz).
Neben der geltenden Rechtschreibung eines Wortes enthält der Duden knappe Bedeutungsangaben, so es denn angezeigt scheint, zum Beispiel bei landschaftlichen und bei veralteten Wörtern, bei Fremdwörtern oder fachsprachlichen Ausdrücken. Zudem bietet er grammatische Informationen wie Genitiv- oder Pluralbildung bei Substantiven, ergänzt um Beispiele zur Beugung von (regelmäßigen und unregelmäßigen) Verben, zu Wortbildungsvarianten und zur Worttrennung. Wo geboten, finden sich, sofern zurückverfolgbar, Angaben zur Herkunft eines Wortes und bei Fremdwörtern wie auch bei heimischen Wörtern, deren Aussprache von der üblichen abweicht, zu ihrer korrekten Aussprache samt Beispielen zur Rechtschreibung eines Wortes in verschiedenen Verwendungsweisen.
Nun, 140 Jahre später, erschien am 12. August 2020 mit der 28., umfassend bearbeiteten Auflage der bis dato umfangreichste Rechtschreib-Duden des Allgemeinwortschatzes der deutschen Sprache, den es jemals gab: mit rund 148 000 Stichwörtern auf 1 294 Seiten, abgeleitet aus der Häufigkeit ihres Gebrauches im Sprachalltag. Diese Vorkommenshäufigkeit hilft bei der Einschätzung, wie sich der Sprachgebrauch in der Gesellschaft verändert, etwa der geschlechterbewusste Wortgebrauch, zu dem auch Optionen angeboten werden. Dem gestiegenen Bedürfnis nach Genderbewusstheit in der Sprache in der Bevölkerung soll unter anderen das »Gendersternchen« entsprechen – ein Wort, das jetzt ebenfalls im neuen Rechtschreib-Duden enthalten ist. Zwischen maskuliner und femininer Endung eines Wortes eingefügt, verbreitet es sich aber nicht nur in der Schriftsprache. Zukünftig soll es auch in den Nachrichten der ARD gesprochen werden; der Jugendkanal des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) hat damit am 1. September dieses Jahres gestartet, wenngleich die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) davon abrät.
Insgesamt wurden 3 000 neue Wörter aufgenommen. Manche Wörter wurden durch moderne Bezeichnungen ersetzt, andere Wörter wiederum bezeichnen Phänomene, die es bislang nicht gab. So das Insektensterben oder im Rahmen der Klimaschutzdiskussion Fridays For Future, die Schummelsoftware im Zusammenhang mit der Dieselaffäre, der E-Scooter als neues Freizeit- bzw. Fortbewegungsmittel und im Kontext der Corona-Pandemie u. a. die Ansteckungskette, Atemschutzmaske, die Lungenerkrankung Covid-19, der Lockdown, die Reproduktionszahl oder das Social Distancing. Sie alle haben den Eintrag in die 28. Auf lage geschafft. Und was auffällt: Es sind Anglizismen darunter; doch Wörter aus anderen Sprachen fanden schon immer Eingang in den deutschen Sprachschatz (z. B. Burn-out, Highlight) und meistens auch in das orthografische Wörterbuch. Man darf gespannt sein, ob nach Ende der Corona- Pandemie der Corona-spezifische Wortschatz wieder aus dem Rechtschreib- Duden verschwindet.
Wortbildungen sind ein Mittel der Wortschatzerweiterung. Sie bereichern den Sprachschatz und finden bei häufigem Gebrauch Eingang in die Schriftsprache. Nicht zuletzt ist der Anstieg der Stichworteinträge auf diesen Mechanismus eines Sprachnutzers oder einer Sprachnutzerin zurückzuführen. Es werden Neologismen (Wortneuschöpfungen) wie das Gendersternchen geschaffen, und häufig werden auch bestehende Wörter oder Wortteile zu neuen sinnhaften Begriffen zusammengefügt (Komposita wie das Montagsauto oder die Kernkompetenz) – und aus komplexen Wörtern können noch komplexere Wörter gebildet werden (z. B. Flachbildfernseher). Daneben werden Wörter aus der deutschen und aus der englischen Sprache zu einem neuen Begriff zusammengesetzt (z. B. Bahncard, Service-Mitarbeiter). Zusammensetzungen sind der produktivste Bereich der Wortbildung. Daneben werden aus dem Wortstamm bestehender Wörter neue Wörter abgeleitet (z. B. chillig). Das Lexikon einer Sprache ist also grundsätzlich offen und unbegrenzt, weswegen die Frage nach seinem Umfang letztlich obsolet ist.
300 Einträge wurden aus der Vorgängerauflage (2017) entfernt. Zu manchen Wörtern findet sich inzwischen keine existenzielle Entsprechung mehr in der Realität. Dies war auch schon zu früheren Zeiten der Fall und wurde entsprechend in früheren Auf lagen berücksichtigt, etwa in der ersten Nachkriegsauflage 1947, die die spezifischen Wortschöpfungen des Dritten Reichs nicht mehr übernahm. Mit anderen Worten: Manche Objekte, Personen, Institutionen, Phänomene, Tätigkeiten etc. sind in unserer Welt nicht mehr gegenwärtig aufgrund technischer, soziokultureller, politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, ethischer oder anderer Veränderungen, etwa die Kammerjungfer oder die Vorführdame. Die Streichung bedeutet aber natürlich nicht, dass die Wörter gänzlich aus dem Sprachschatz verschwinden, sie werden nur zunehmend seltener bis gar nicht mehr verwendet, z. B. das Wort Arztfrau. Selbstverständlich gibt es noch die Arztfrau als Ehefrau eines Arztes, diese kann aber ihren gesellschaftlichen Stellenwert nicht mehr durch einen eigenen Eintrag im Duden veredeln. Ähnlich verhält es sich mit dem Wolfsrachen, einer angeborenen Fehlbildung des Gaumens oder Kiefers bei Menschen, die heute unter dem Oberbegriff Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte geführt wird. In seinem 2018 erstmals und gerade neu erschienenen Buch hat der Lektor und Verleger Peter Graf auf Wunsch der Dudenredaktion untersucht und in thematischen Kapiteln dargestellt, warum Wörter aus dem Sprachgebrauch verschwinden (vgl. die sich anschließende Rezension).
Fazit: Die Zahl der im Rechtschreib- Duden enthaltenen Wörter stieg bislang stetig an; das hierfür geltende Kriterium ist aus der frequenzbasierten Nutzung eines Wortes im Sprachalltag abgeleitet, womit nichts über dessen dauerhafte Verwendung ausgesagt ist. Jede Sprachnutzerin und jeder Sprachnutzer wird Wörter kennen, mögen und gebrauchen, die nicht im aktuellen Rechtschreib-Duden enthalten sind, der Bergkletterer z. B. den Zustiegsschuh. Dies trifft ebenso für Sprachvarietäten wie dialekt- oder regionalsprachliche Ausdrücke zu, die selbstredend kaum in der Standardsprache vorkommen. Ein Beispiel: Das sächsische Sauerkraut wird in der Oberlausitz Furzwulle genannt. Allerdings werden Dialektwörter außerhalb privater Kontexte selten verschriftet.
Was folgt daraus? Der Rechtschreib- Duden ist ein Gebrauchswörterbuch, kein Kompendium, wodurch sich zwar seine Alltagstauglichkeit und Praktikabilität über 28 Ausgaben und 140 Jahre erklärt, die ihn zu einem Markennamen gemacht haben, der jedoch keine umfassende Wortsammlung von Optionen in sprachkommunikativen Alltagssituationen abbildet.
Literatur
Dudenredaktion (Hg.) (2020): Duden – Die deutsche Rechtschreibung. Das umfassende Standardwerk auf der Grundlage der aktuellen amtlichen Regeln. Berlin.
Graf, Peter (2020): Was nicht im Duden steht. Eine Sprach- und Kulturgeschichte. (2. Aufl.). Berlin.
Christiane Kiese-Himmel