Die Chemie stimmt
Seit den 1960er Jahren lässt sich – wohl zuerst in der Studentenbewegung – die Metapher von der Chemie, die zwischen zwei Menschen stimmt, feststellen, die schon bald auch in die Metaphorik der Journalisten eingegangen ist: »Die Chemie zwischen Momper und Diepgen stimmt« (Rheinpfalz, 4. 12. 1990). Sie findet seither allgemeine Verbreitung. Doch dass die Personalisierung der chemischen Verbindungen bis ins ausgehende 18. Jahrhundert zurückreicht, ist wenig bekannt.
Ihre Grundlage findet diese Metapher in der Gliederung der Chemie in eine anorganische und eine organische Teildisziplin, wie sie um 1770 von dem schwedischen Chemiker Torben Olof Bergman entwickelt und mit dem Terminus Attractio selectiva verbunden wurde.
Ende des 18. Jahrhunderts bildet diese Theorie die Grundlage für eine Metapher, die die chemische attractio auf zwischenmenschliche Beziehungen überträgt. Der früheste nachweisbare Beleg geht auf Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher zurück, der in seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens – verfasst um 1799 – schreibt, dass die homogene Gesellschaft sich gleichsam »unwillkürlich durch chemische Ähnlichkeit krystallisieren« könne. Diese unvollendete Studie wurde jedoch erst 1870 von Wilhelm Dilthey veröffentlicht.
Schleiermacher hat diesen Text wahrscheinlich in dem Kreis um den Naturwissenschaftler Marcus Herz vorgetragen, der mit seiner Frau Henriette Herz den ersten Berliner Salon unterhielt. Während der Mann sich mit seinen Gästen über Naturwissenschaften und Philosophie unterhielt, befassten sich die Frauen um Henriette mit der zeitgenössischen Literatur. Schleiermacher wurde, einem Zeugnis von Gottfried Schadow gemäß, von dem Grafen Alexander von Dohna in diesen Kreis eingeführt.
Einen entscheidenden Durchbruch hat die Metapher dann bei Johann Wolfgang Goethe in seinem 1809 veröffentlichten Roman Wahlverwandtschaften erfahren. So greift er bereits bei der Wahl des Titels ausdrücklich auf die attractiva selecta von Torben Bergman zurück. Goethe, der in seinem Straßburger Studium auch chemische Vorlesungen bei Jacob Reinhold Spielmann hörte und dort vor allem die Phlogiston-Theorie kennen lernte, hat sich zeit seines Lebens mit diesen Fragen beschäftigt. Dabei hat er – wie sein Gedicht in den Xenien zeigt, die Phlogiston-Theorie aufgegeben: »Schon ein Irrlicht sah ich verschwinden, dich Phlogiston! Balde, O Newtonsches Gespenst, folgst du dem Brüderchen nach.« Mit dieser Absage an die Phlogiston-Theorie, die alle chemischen Reaktionen auf geistige Prozesse zurückführen will, schließt sich Goethe der Bergman’schen Teilung der Chemie an.
In den Wahlverwandtschaften wird nun diese chemische attractio selectiva auf das persönliche Verhältnis zwischen Eduard und Ottilie, aber auch auf Charlotte und den Hauptmann übertragen. In einem langen Gespräch zwischen Charlotte, Eduard und dem Hauptmann im 4. Kapitel des 1. Teils werden nach einem Vortrag des Hauptmanns die chemischen Reaktionen als Attraktionen und Distraktionen erörtert, wobei – wie die Darstellung des Verhältnisses von Wasser und Öl zeigt – chemische und physikalische Fragen ineinander übergehen. Dabei wendet Charlotte die naturwissenschaftlichen Relationen auf die menschlichen Beziehungen an: »Es fehlt nicht viel, so sieht man in diesen einfachen Formen die Menschen.« Dabei fällt auch das »Kunstwort« Wahlverwandtschaften. Und später heißt es: »Diejenigen Naturen, die sich beim Zusammentreffen einander schnell ergreifen und wechselseitig bestimmen, nennen wir verwandt … Die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken, so dass es sogar ein bezeichnender Ehrentitel der Chemiker war, wenn man sie Scheidekünstler nannte.«
Zwar wird weder bei Schleiermacher noch bei Goethe die Wendung »Die Chemie stimmt« gebraucht. Doch ist die Verwandtschaft der Vorstellungen zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dem späteren 20. Jahrhundert unverkennbar.
Günther Pflug