Ausgabe: Der Sprachdienst 6/2024

Eine Alternative

Foto: 愚木混株 (Pixabay)

Es ist kein neues Wort und in der heutigen Zeit gewiss kein seltenes oder auffälliges, zumal es schon vor Gründung einer politischen Partei, die das Wort im Namen trägt, äußerst frequent war. Doch die Dringlichkeit, mit der es inzwischen verwendet wird, hält uns vor Augen, dass es sich in der Tat um ein Zeit-Wort handelt: die Alternative.

So wie es ist, kann es nicht weitergehen, scheint der Leitspruch unserer Zeit zu lauten. An allen Ecken und Enden unserer Gesellschaft tun sich Widrigkeiten auf, werden Rückstatt Fortschritte sichtbar, gerät unser Lebensstil, unser Leben, wie wir es kennen und wie wir es seit Jahrzehnten führen – in einer Wohlstands- und Konsumgesellschaft –, unter Druck: Etwas muss sich ändern. Vieles muss sich ändern. Wir brauchen Alternativen.

Vermutlich haben wir alle schon einmal gehört (oder gesagt bekommen), dass es dem Wortsinn nach immer nur eine Alternative geben kann, nicht mehrere, dass die inhärente Bedeutung von Alternative die ›Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten‹ ist. Dennoch begegnen wir dem Wort immer wieder in Kontexten, in denen es »verschiedene«, also mehrere Alternativen gibt, mehrere Möglichkeiten, aus denen zu wählen ist. Ist das sprachlich noch korrekt? Werfen wir einen Blick in die Wortgeschichte.

Im Deutschen wird das Substantiv Alternative, zunächst als Alternativa, erst später unter Einfluss des Französischen als Alternative, seit dem 17. Jahrhundert verwendet, das Adjektiv alternativ sogar schon seit dem 15. Jh. in lateinischer Form (alternativus, alternative) in deutschen Texten, seit dem 18. Jh. »eingedeutscht «. Dabei wurde die Alternative zunächst ausschließlich als »eine von zwei Möglichkeiten« verstanden; in der Neubearbeitung des Grimm’schen Wörterbuchs werden drei sich ähnelnde Bedeutungen genannt, die jeweils explizit auf die Existenz von nicht mehr als zwei Möglichkeiten hinweisen. Das Wort geht zurück auf das lateinische alternus ›abwechselnd‹ zu alter ›der/ die/das andere von zweien‹; gemeint ist ein Abwechseln vom einen zum anderen, ein Einander-Ablösen – geht das eine, kommt das andere. Mit dieser Bedeutung begegnet uns auch das Fremdwort alternierend ›abwechselnd‹. Auch lateinisch alter kennen wir aus unserem Wortschatz: Das Alter Ego ist das sogenannte ›andere Ich‹ und damit entweder eine Person, mit der jemand besonders eng verbunden bzw. sehr vertraut ist, oder ein abgespaltener Teil der Persönlichkeit, so bei Dr. Jekyll und seinem Alter Ego Mister Hyde. Sowohl aus alternierend als auch aus Alter Ego scheint deutlich hervor, dass es sich um nur zwei Möglichkeiten bzw. zwei Seiten einer Persönlichkeit handelt, um ein Entweder-oder: Existiert das eine, kann es nicht gleichzeitig das andere geben. Schauen wir jedoch ins Englische, weicht das Wort von seiner bisherigen »binären« Bedeutung ab: So wird das Verb [to] alter, das ebenfalls mit lateinisch alternus in Beziehung steht, zu ›ändern‹ übersetzt. Auch diese Bedeutung beinhaltet zwar eine Veränderung – etwas geht, etwas anderes kommt –, doch sie impliziert nicht, dass es nur einen weiteren wählbaren Weg gibt, sondern mehrere.

Kehren wir zurück zum Substantiv Alternative und der Frage nach der sprachlichen Korrektheit, wenn von mehr als einer Alternative die Rede ist: In der Tat hat das Englische maßgeblich dazu beigetragen, dass das Wort eine Bedeutungserweiterung erfahren hat. Darüber hinaus könnte ein weiteres Wort, das dem lateinischen alter ähnlich, aber nicht bedeutungsgleich ist, diese Entwicklung beeinflusst haben: lateinisch alius mit der eher allgemeinen Bedeutung ›ein beliebiger anderer/eine beliebige andere‹. Wir kennen das Wort heute noch besonders in zwei Deklinationsformen: als alias mit der Bedeutung ›anders, sonst, eigentlich, auch … genannt‹, um einen Decknamen anzugeben, und in der Abkürzung et al. = et alii, um in Literaturangaben deutlich zu machen, dass noch andere, weitere Autor(inn)en an einem Artikel oder Buch beteiligt waren. Die Antwort lautet also: Ja, es ist korrekt, von mehreren Alternativen zu sprechen.

Sowohl das Substantiv Alternative als auch das Adjektiv alternativ treten inzwischen in einigen prominenten Kombinationen und Kontexten auf: Schon viele Jahrhunderte kennen wir die Alternativmedizin – auch wenn sie nicht ebenso lange so bezeichnet wird –, eine etwa auf Naturheilkunde oder homöopathischen Ansätzen basierende Alternative zur Schulmedizin. Jünger ist die Alternativbewegung; sie bezeichnet eine Protest- und Reformbewegung, die besonders in den 1970erund 1980er-Jahren aktiv war und sich, so der Duden, »als Alternative zu Kultur und Weltordnung der bürgerlichen Gesellschaft versteht«. Eine Frau, die einer alternativen Bewegung angehört, ist übrigens auch eine Alternative – mit dieser Bedeutung kann das Wort, wird es für einen Mann gebraucht, auch einen maskulinen Artikel erhalten: der Alternative. Noch heute lebt alternativ, wer sich nicht den gängigen Gesellschaftsvorstellungen beugt und z. B. das Voranschreiten der Technik boykottiert, sich der Konsumgesellschaft verweigert oder sogar besonders umweltbewusst und nachhaltig, im Einklang mit der Natur lebt. Zwar ähnlich anmutend und doch anders zu verstehen ist ein alternativer Lebensentwurf: Dieser Ausdruck wird verwendet, um anzudeuten, dass jemand nicht den traditionellen, fast stereotypen und gesellschaftlich jahrhundertelang vorgezeichneten Weg – Heirat und Kinder, für Männer zudem eine Karriere, für Frauen der Haushalt – einschlägt, sondern davon abweicht. Alternativ ist, was im Gegensatz zum Althergebrachten, zum Herkömmlichen, zum Etablierten steht, alternativ ist also unter Umständen – und in Zeiten des Klimawandels – sogar gleichzusetzen mit innovativ, so etwa alternative Landwirtschaft, die auf Biodiversität und tierwohlgerechte Haltungsformen setzt, oder alternative Energie, die nicht mehr aus fossilen Brennstoffen gewonnen wird; Letztere kennen wir vor allem als erneuerbare Energien oder schlicht Erneuerbare – noch nicht jedoch als Alternative (Plural). Auch die Musikrichtung Alternative, englisch ausgesprochen, verstand sich zunächst als Abgrenzung vom Mainstream; sie gilt als Sammelbegriff für unterschiedliche Musikstile wie Indie, Underground und Independent. Der Ausdruck alternative Fakten hingegen leitet in die Irre, beschönigt er doch, dass es sich um nichts anderes als Lügen handelt – denn welche Alternative zu einer (belegbaren) Tatsache gibt es schon?

Bei all diesen Begriffen klingt an, dass eine Alternative nicht nur eine von zwei Möglichkeiten ist, sondern eine von mehreren. Als Gegenteil hat sich vor einigen Jahren das Adjektiv alternativlos etabliert; es bedeutet nichts anderes, als dass es keine Alternative gibt, sich keine andere Möglichkeit bietet. Im Englischen formte sich dazu das Akronym TINA: ›there is no alternative‹. 2010 wurde alternativlos zum Unwort des Jahres gekürt. Die Begründung: Das Wort suggeriere, dass in einem Entscheidungsprozess keine anderen Möglichkeiten existierten und sich eine Argumentation somit von vornherein erübrige – jeder potenziellen Diskussion wird damit die Grundlage entzogen. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das Wort geprägt wie niemand sonst.

Wurde eingangs erwähnt, das Wort sei nicht selten, so ließe sich sogar behaupten, es würde überstrapaziert und dadurch dem Bedeutungsverlust zum Opfer fallen. Doch das Gute bei der Bedeutungserweiterung, die das Wort durchlaufen hat, ist ja: Neben der »Alternative für Deutschland« dürfen wir gewiss sein, dass es nicht nur die eine, sondern noch andere Alternativen für Deutschland gibt.

Frauke Rüdebusch