Erdrutsch

Anlässlich der Wahlen zum EU-Parlament war es wieder einmal zu vernehmen: eines der schiefsten Bilder, die sich in der deutschen Sprache oder zumindest in der Medienlandschaft festgesetzt haben. Es handelt sich um den Erdrutschsieg oder auch erdrutschartigen Sieg oder die erdrutschartigen Gewinne einer Partei. Die Rede war in diesem Fall von europakritischen Parteien in diversen EU-Staaten, zum Beispiel in Österreich, Belgien, Deutschland und Frankreich, was aber hier im Grunde gar keine Rolle spielt. Ausgedrückt werden sollte, wie immer bei diesem Gebrauch des Wortes Erdrutsch, dass die jeweiligen Parteien einen hohen Anteil an Wählerstimmen erringen konnten und gemessen an vorangegangenen Wahlen ihr Ergebnis deutlich verbessert haben. So einen Sachverhalt kann man natürlich auch in ein sprachliches Bild verpacken, aber das Bild sollte eben in irgendeinem sinnfälligen Zusammenhang mit dem Sachverhalt stehen. Was ist nun ein Erdrutsch? Laut dem »Großen Wörterbuch der deutschen Sprache« (Duden) ist ein Erdrutsch die »[plötzliche] Abwärtsbewegung großer Erdmassen an einem Hang«.

Etwas allgemeiner ausgedrückt, handelt es sich also um eine Bewegung von oben nach unten. Das kann man nicht nur vom Erdrutsch sagen, sondern im Grunde von jedwedem Rutschen, auch dem auf dem Kinderspielplatz oder im Freibad. Wenn nun aber eine Partei bei einer Wahl in der Vergangenheit zum Beispiel sechs Prozent der Stimmen erreicht hat und bei der darauf folgenden Wahl zum Beispiel zwanzig, worum handelt es sich dann – bildhaft gesprochen? Doch wohl kaum um eine Bewegung von oben nach unten, sondern genau umgekehrt von unten nach oben. Und von unten nach oben rutscht es sich schlecht, es widerspricht den Gesetzen der Schwerkraft. Nun ist die Sprache anders als die Physik nicht den Gesetzen der Schwerkraft unterworfen, und insofern ist der Erdrutschsieg zwar widersinnig, aber verständlich. Es soll bedeuten: Das Wahlergebnis hatte etwas von einem gewaltigen Naturereignis und dabei den Charakter des nicht unbedingt Erwartbaren. Das scheint auch sehr seriösen Medien wie FAZ und ZEIT so einzuleuchten, dass man sogar dort regelmäßig von Erdrutschsiegen liest. Besonders merkwürdig ist im Zusammenhang mit dem Erdrutsch als sprachlichem Bild dann aber vor allem eines: Es gibt zwar neben Wahlsiegen auch krachende Wahlniederlagen, die allerdings niemand als Erdrutschniederlagen bezeichnet. Vielleicht nennen wir diese Niederlagen und Stimmenverluste in Zukunft, um ein ähnlich schiefes Bild zu erzeugen, dann einfach Raketenniederlagen oder vulkanausbruchartige Niederlagen und sind dann mit den Erdrutschsiegen in puncto Unsinnigkeit wieder quitt.

Nicola Frank