„Himmel welcher Schimpf! (…) Ich ein Schneider?“ – Ausrufe der Empörung in Dramen des Barock, der Aufklärung, des Sturm und Drang und der Klassik“

Prof. Wolfgang Imo, Hamburg
Datum
20.09.2023
18:00 Uhr
Veranstaltungsort
Goethe-Institut Hamburg
Eine Veranstaltung von:


Zum Vortrag:

Die Inszenierung von Betroffenheit ist in Dramen etwas, das zum Repertoire von AutorInnen gehört, denn das rhetorische Stilmittel des movere, des Erzeugens einer Gefühlsbewegung beim Publikum, lässt sich durch das Zurschaustellen und verbale und nonverbale Umsetzen starker Emotionen der dramatis personae gut erreichen. Der folgende Auszug aus Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm (1763–1767) illustriert eine solche Verwendung der Zurschaustellung von Betroffenheit. Minna von Barnhelm ist auf der Suche nach dem aus dem Wehrdienst entlassenen und zu dem Zeitpunkt verarmten Major von Tellheim, ihrem Verlobten, der aus falschem Ehrgefühl seiner Armut wegen ihr aus dem Weg geht. Minna von Barnhelm („Das Fräulein“) gelangt an den Verlobungsring, den Tellheim aus Geldnot versetzen musste, und treibt nun ein Versteckspiel mit Tellheim, das außer Kontrolle gerät, da Tellheim am Ende davon ausgeht, dass Minna von Barnhelm ihn nicht mehr liebt und den Ring aufkaufen lassen hat, um die Verlobung zu lösen. An dieser Stelle setzt der folgende Auszug ein:

Beispiel 1: Minna von Barnhelm
DAS FRÄULEIN.
Tellheim! – Tellheim! Der vor Wut an den Fingern naget, das Gesicht wegwendet, und nichts höret. – Nein, das ist zu arg! – Hören Sie mich doch! – Sie betrügen sich! – Ein bloßes Mißverständnis, – Tellheim! – Sie wollen Ihre Minna nicht hören? – Können Sie einen solchen Verdacht fassen? – Ich mit Ihnen brechen wollen? – Ich darum hergekommen? – Tellheim!

Die emotionale Aufgewühltheit des sich betrogen glaubenden Tellheim wird durch eine Regieanweisung bzw. den kommentierenden Text „Der vor Wut an den Fingern naget, das Gesicht wegwendet, und nichts höret“ gesetzt. Minna von Barnhelm gerät durch diese extreme Reaktion von Tellheim nun von der Rolle der souveränen Spielerin in die der Bedrängten, die ihren Verlobten zu verlieren droht, und in großer Bestürzung weist sie dessen Anschuldigungen, dass sie die Verlobung lösen wolle, mit den „Nicht-finiten Prädikationskonstruktionen“ „Ich mit Ihnen brechen wollen?“ und „Ich darum hergekommen?“ zurück. Die rhetorische Wirkung wird bei dieser Art der Konstruktion dadurch erzielt, dass eine Verdichtung eintritt, die durch die Nicht-Realisierung des finiten Verbs der Gegenüberstellung eines pronominalen Referenzakts (in beiden Fällen hier „Ich“) mit einem jeweiligen Prädikationsakt („mit Ihnen brechen wollen?“ und „darum hergekommen“?) erzeugt wird. Im weiteren Sinne zählen diese Muster damit zu den Exklamativkonstruktionen. Während für das heutige Deutsch diese Struktur recht gut erforscht ist, liegen für frühere Sprachstufen noch keine Erkenntnisse darüber vor. Aus diesem Grund soll der Gebrauch dieser Konstruktionen in Dramen des Barock (Gryphius), in der Aufklärung (Lessing) sowie dem Sturm und Drang und der Klassik (Schiller und Goethe) analysiert werden.

 

Zweigvorsitzende:

Prof. Dr. Sabine De Knop
Université Saint-Louis, Bruxelles
German language and linguistics
E-Mail: sabinedeknop@t-online.de

Anna Constantin
E-Mail: desk@annaknodt.de