Sprachwandel und Normenkonkurrenz: Horst Dieter Schlosser zum Gedenken
Buchinfo
Horst Dieter Schlosser
Sprachwandel und Normenkonkurrenz. Deutsch im indoeuropäischen Rahmen
kartoniert, 156 Seiten
ISBN: 978-3-347-77927-3
tredition
Der Verfasser sieht in der Konkurrenz von grammatischen Normen den wichtigsten Impuls für Sprachwandel. Solche Konkurrenzen sind auf allen grammatischen Ebenen festzustellen und verursachen immer wieder Unsicherheiten im Sprachgebrauch. Sie entstehen grundsätzlich im mündlichen Sprachgebrauch, der in der Geschichte jeder Sprache schriftlichen Fixierungen sehr lange Zeit, oftmals Jahrhunderte und sogar Jahrtausende, vorausgeht. Im Mittelpunkt der kritischen Betrachtung steht hier, mit zahlreichen historischen und aktuellen Belegen, das Deutsche. Die vielfachen Seitenblicke auf entsprechende Verhältnisse in anderen indoeuropäischen Folgesprachen (u. a. im Englischen, Französischen, Polnischen) sollen dazu dienen, die Spezifik der deutschen Situation noch schärfer herauszuarbeiten.
Unsere Sprache ist ein lebendiger Organismus, der sich seit ihren Anfängen in steter Entwicklung befindet und dies auch weiter tun wird. Doch warum ist das eigentlich so? Dieser »Gretchenfrage« der historischen Sprachwissenschaft ist Horst Dieter Schlosser in seiner letzten Veröffentlichung auf den Grund gegangen. Er sammelte also nicht einfach nur Fakten, sondern begab sich – mit eigenen Worten – auf die »Suche nach einer Theorie des Sprachwandels«.
Auf die ständig neu auftauchenden oder auch wieder verschwindenden Sprachformen blickte er dabei mit der souveränen Gelassenheit des Wissenden: Was heute als Fehler angesehen wird, könnte schon morgen zur Norm werden. Diese grundsätzliche Offenheit gegenüber Veränderungen prägt auch unsere Arbeit bei der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), wenn wir sprachliche Entwicklungen beobachten, Empfehlungen geben oder Stellung zu aktuellen Phänomenen nehmen.
Schlosser verschafft den Lesenden einen guten Rundumblick über die einstigen grammatischen Marker und Kategorien der Ursprache des Deutschen, dem Indoeuropäischen. Restbestände davon sind noch in einigen europäischen Sprachen zu finden, doch vieles ist längst verschwunden. Ein prominentes Beispiel ist die sogenannte Reduplikation, also die Wiederholung von Lauten oder Silben, um ein Tempus zu bilden.
Mehr als Basiswissen über sprachwissenschaftliche Grundbegriffe braucht es nicht, um Schlossers anschaulich geschriebenen Ausführungen über die Vielfalt der grammatischen Ausdruckmöglichkeiten folgen zu können und so den Blick über den Horizont der eigenen Sprache(n) hinaus zu weiten. Manches, was in »toten« Sprachen wie dem Altgriechischen oder Lateinischen noch zu finden ist, lässt sich im Deutschen nur noch in Dialekten wie dem Bairischen belegen. Das gilt etwa für den sogenannten Dual, eine Sonderform des Plurals, die sich auf genau zwei Dinge bezieht.
Nach dem eher theoretischen ersten Teil des Buches präsentiert Schlosser im zweiten Teil zunächst eine kompakte Sprachgeschichte des Deutschen, um sich schließlich aktuellen sprachlichen Entwicklungen zu widmen. Dabei werden Fragen diskutiert, die sicherlich auf ein breites Interesse stoßen werden: Wie viele Wörter hat das Deutsche, wie sind die allerersten Wörter entstanden (vielleicht durch spontan produzierte Äußerungen wie Aua!), warum gibt es so viele Probleme mit dem Fugen-s und darf das Verb in weil-Nebensätz en an zweiter Stelle stehen? Andere Informationen sind spezieller und dürften vor allem Fachkundige interessieren. So greift Schlosser u. a. die Frage auf, ob es schon in indoeuropäischen Sprachen das Drei-Genus-System gab, oder er erläutert, wie die heutigen Wortendungen -heit, -keit und -tum entstanden sind.
Insgesamt ist Schlossers letztes Werk eine rundum faszinierende Lektüre für alle, die an theoretischen, historischen und aktuellen Sprachphänomenen interessiert sind. Das Wissen ist stets fundiert, gut strukturiert und nicht übertrieben bildungssprachlich oder prosaisch dargestellt. Unsicherheiten oder Unstimmigkeiten, die aufgrund fehlender historischer Belege manchmal unvermeidbar sind, verschweigt Schlosser nicht. Am Ende des Buches erwartet die Lesenden eine Theorie des englischen Sprachforschers Ernest Curzons. Dieser stellt einen Zusammenhang zwischen dem Pfeiferauchen und dem Abschleifen der Wortendungen im Englischen her – Horst Dieter Schlosser, der als Professor für Deutsche Philologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main forschte und lehrte, war nicht nur für sein Fachwissen berühmt, sondern auch für seinen Humor.
Hanna Gottschalk, Tim Hirschberg und Lutz Kuntzsch