Ausgabe: Der Sprachdienst 1-2/2021

»Jeder von uns sagt: ›Ich gehe zum Bäcker.‹«

Interview mit Dr. Kathrin Kunkel-Razum über die Änderung des Duden-Eintrags »Arzt«, dessen Bedeutung nun mit ›männliche Person‹ angegeben ist.

Die Kernbedeutung von Bäcker aufs Korn genommen. Bild: AnnaliseArt (Pixabay); mod. TS

Dr. Kathrin Kunkel-Razum leitet seit 2016 die Dudenredaktion und vertritt den Dudenverlag im Rat für deutsche Rechtschreibung. Bekannt geworden ist sie durch die Einführung geschlechtergerechter Sprache in den Duden-Büchern und zuletzt auf duden.de. Avantgardistisch? Was für einige der Abschaffung des generischen Maskulinums gleichkommt, ist für die Germanistin lediglich eine Aktualisierung der »Kernbedeutung«. Unsere Mitarbeiterin Ronja Walter fragte nach.

Frau Dr. Kunkel-Razum, momentan ist der Duden vor allem wegen des Nebeneinanders von maskulinen und femininen Formen in den medialen Fokus gerückt. Wir haben die Berichterstattung natürlich verfolgt und haben so den Eindruck, dass viele Menschen befürchten, der Duden wolle die generische Verwendung abschaffen.

Mit dem, was Sie beschreiben, sprechen wir über Duden online und nicht über eines unserer gedruckten Wörterbücher, darüber ist gar nichts entschieden. Aber Duden online hat einen Kern, der aus der Print-Lexikografie kommt, und das ist das Deutsche Universal-Wörterbuch. Dieses folgt in seiner Printversion ganz traditionellen Regelungen der Lexikografie, die genau so aussehen: Es gibt einen Eintrag Arzt und da steht »jemand, der …« oder »Person, die …« usw. Und dann gibt es auch schon die weibliche Form; Ärztin hat natürlich einen eigenen Eintrag und da steht dann »Ärztin, die« und dann »weibliche Form zu Arzt«, das ist ein sogenannter Verweisartikel, also kein vollständig ausgearbeiteter Artikel, d. h., er verweist lediglich auf die männliche Form – zugespitzt formuliert: Die Frauen sind etwas ›Abgeleitetes‹, die feminine Form ist also etwas Abgeleitetes.

Der Artikel zur weiblichen Form hat natürlich einen eigenen Eintrag, doch er verweist lediglich auf die männliche Form – zugespitzt formuliert: Die Frauen sind etwas ›Abgeleitetes‹, die feminine Form ist also etwas Abgeleitetes.

Duden nimmt übrigens seit über 20 Jahren zu allen männlichen – genauer müsste man sagen: maskulinen – Personen- und Berufsbezeichnungen auch die weibliche Form auf. Keine eigene Definition, keine eigenen Beispiele. Im Printwörterbuch geht das Ganze vielleicht noch, weil Einträge sehr eng beieinanderstehen. Das ist im Online-Duden ganz anders. Denn jeder Eintrag steht auf einer einzelnen Seite. Das heißt, wenn Sie Influencerin aufrufen, dann sehen Sie nur den Eintrag Influencerin. Das Einzige, was da steht, ist »Influencerin, die, weibliche Form zu Influencer«. Influencer ist verlinkt und man findet dort die Bedeutungserklärung für die maskuline Form und Beispiele. Das ist Leuten zu unbequem. Was hier noch viel deutlicher als im gedruckten Wörterbuch wird, ist, dass die femininen Formen – salopp formuliert – zweitrangig sind.

Für beides, den technischen wie auch für den inhaltlichen Umstand, sind wir in den letzten Jahren stark kritisiert worden. Und es ist eine Kritik, die uns sehr eingeleuchtet hat. Wir versuchen Duden online immer zu optimieren, wir gucken uns an, welche Features sind verbesserungswürdig im Interesse der Nutzenden usw. Diesen Punkt hatten wir schon lange vor Augen, wir dachten, das müssen wir eigentlich ändern. Es sind 12 000 dieser Paare, also 24 000 Einträge, das ist natürlich sehr viel Arbeit. Wir sind gerade inmitten des Projekts, von daher hat man ein uneinheitliches Bild. Manche Einträge sind schon geändert und andere noch nicht. Das bedeutet, die weiblichen, die femininen Formen werden zu Vollartikeln ausgebaut. Infolgedessen haben wir uns entschieden, nun die Definition auch bei der maskulinen Form zu präzisieren.

Es gibt weniger Kritik an der weiblichen Ausarbeitung, der Punkt ist, dass bei Lehrer nun steht: »männliche Person …«. Unsere Auffassung ist tatsächlich, dass dies der Kern der Bedeutung ist, denn wenn Sie sagen »Der Lehrer steht in der Tür«, sieht wohl kaum jemand von uns eine Lehrerin dort stehen. Der Kern der Bedeutung ist ›männliche Person‹.

Dann ist es aber etwas anderes, dass wir eine andere, geschlechterübergreifende traditionelle Verwendungsweise haben, die klassisch als generisches Maskulinum bezeichnet wird. Genau daran entzündet sich jetzt die Diskussion.

Dann ist es aber etwas anderes, dass wir eine andere, geschlechterübergreifende traditionelle Verwendungsweise haben, die klassisch als generisches Maskulinum bezeichnet wird. Da heißt es z. B. »Die Bürger dieses Landes sind zur Wahl aufgerufen« und es sollen alle gemeint sein. Genau daran entzündet sich jetzt die Diskussion, denn diese Form geschlechterübergreifender Darstellung wird von vielen inzwischen nicht mehr akzeptiert, die finden das zu unpräzise. Wenn man sich genau fragt und genau beobachtet, merkt man tatsächlich, dass man manchmal überlegt: »Sind jetzt wirklich nur die Männer oder beide Geschlechter gemeint?« Diese präzise Verwendung prägt natürlich auch unser Bild. Wenn wir sagen »In diesem Krankenhaus behandeln die Ärzte besonders gut«, bleibt die Aussage über die Frauen unklar. Sind vielleicht mehr Ärztinnen beschäftigt als Ärzte?

Was wir registrieren, ist: Diese Verwendung wird hinterfragt, wird in vielen Kontexten abgelöst, aber natürlich verschwindet sie nicht. Jeder von uns sagt: »Ich gehe zum Bäcker/zum Fleischer/zum Arzt« und das stellen wir überhaupt nicht in Abrede, aber der Kern bleibt für uns, es ist eine männliche Person, aber es gibt eine tatsächlich geschlechterübergreifende Verwendung in abstrakteren Bereichen, etwa in Arztpraxis, wo ich keinen Arzt und keine Ärztin sehe. Das zeigen wir nach wie vor in den Beispielen, aber nicht im Kern der Bedeutung. Also: Wir schaffen das generische Maskulinum nicht ab, das ist nicht unsere Absicht, und ehrlich gesagt, würden wir das auch gar nicht schaffen. Die Sprachgemeinschaft entscheidet natürlich darüber, wir sie mit dieser Form umgeht. Was wir aktuell überlegen aufgrund der Resonanz, die wir erhalten, ist, ob man das auf unserer Seite klarer darstellen kann, wie die Verwendung erfolgt. Darüber beraten wir schon seit zwei Wochen.

Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Was ich mir auch gut vorstellen kann, ist, dass man bei den männlichen Formen einfach einen zweiten »Stichpunkt« neben »männliche Person, die …« hinzufügt, der dann heißt: »kann auch geschlechterübergreifend verwendet werden« mit Beispielen.

Ja, genau, das wäre sicher ein Weg. Wir prüfen das gerade.

Was mir wichtig ist zu sagen, ist, dass Sie nicht versuchen, Sprache »von oben« zu verändern, sondern dass dieser Wandel aus der Sprachgemeinschaft selbst kommt und der Duden nicht auf einmal die Idee hatte: »Wir machen das jetzt mal« und die Leute denken dann, es muss so sein, sondern andersherum.

Genau, das haben Sie schön auf den Punkt gebracht. Wir zeichnen hier etwas nach, was wir an Sprachentwicklung sehen. Und wir sehen sehr deutlich – mit allen Unsicherheiten, die so etwas mit sich bringt – die Suche nach anderen sprachlichen Formen (wie das Sternchen) für eine geschlechtergerechte Kennzeichnung.

Und ich nehme an, wenn Sie sagen »Wir sehen das«, dann heißt das, das zeigt sich auch im Korpus?

Es zeigt sich im Korpus und es zeigt sich in den ganzen Anfragen, die wir erhalten.

Jetzt gibt es ja Komposita wie Ärztekammer und Richterrecht. Das sind ja erst einmal die maskulinen Formen, die den ersten Teil des Kompositums bilden. Was würde mit solchen Wörtern passieren?

Wir zeigen in unseren Ratgebern sehr schön, dass hier der Handlungsbedarf offensichtlich deutlich geringer ist. Hier ist ein höherer Abstraktionsgrad als bei der Einzelbenennung. Dieser Drang, präziser zu formulieren, wird immer größer, je stärker auf einzelne Personen referiert wird. Wenn es in Richtung Amt/Einrichtung geht, dann stellt sich der Fall durchaus ein wenig anders dar. Aber auch hier sehen wir ja, dass es schon Umbenennungen gegeben hat: Das Studentenwerk heißt eben nicht mehr Studentenwerk, sondern Studierendenwerk. Wir werden öfter gefragt, das erste Mal 2005, ob das Bundeskanzleramt jetzt nicht umbenannt werden müsste in Bundeskanzlerinnenamt. – Nein, eine Notwendigkeit sehen wir da auch nicht. Wir werden sehen, was da passiert, aber ich denke nicht, dass dies das vordringliche Problem ist, was aktuell diskutiert wird.

Sie sind einerseits die Leiterin der Dudenredaktion, Sie sitzen aber auch im Rechtschreibrat.

Ja, das ist richtig. Ich vertrete den Duden im Rat für deutsche Rechtschreibung.

Sie haben [im vollständigen Interview, Anm. d. Red.] gesagt: Es besteht eine gewisse Dringlichkeit, Regeln festzulegen und zu sagen: »Wir einigen uns auf eine Form und die soll dann als anerkannte Form gelten, mit der wir auch das dritte Geschlecht in der Sprache sichtbar machen können.« Die vielversprechendsten Anwärter sind wahrscheinlich das Gendersternchen, der Doppelpunkt, das große Binnen-I oder die Lücke, der Gendergap. Gibt es denn da schon eine Tendenz?

Gendern ist ein schillernder Begriff, bei dem man sich darüber verständigen muss, worüber wir genau reden. Wenn wir die binären Formen nehmen, also die Doppelnennung wie Lehrerin und Lehrer, dann ist das ja eigentlich nur teilgegendert. Wir gehen auf unseren traditionellen gesellschaftlichen, aber auch sprachlichen Hintergrund zurück und führen die maskuline und feminine Form auf. Das ist sicher das, was viele unter Gendern verstehen, aber das eigentliche Gendern geht weiter, d. h., das »dritte Geschlecht« wird eben auch sprachlich abgebildet. Dazu gibt es ja eine gesetzliche Grundlage, geschaffen durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes, der Menschen das Recht einräumt, sich nicht als männlich oder weiblich ins Geburtenregister eintragen zu lassen, sondern als divers. So weit, so gut, aber nun hat das Ganze ja Folgen, sowohl gesellschaftliche wie auch sprachliche, denn sie sind dann eben weder Mann noch Frau, sondern divers. Wie bilde ich das im Folgenden ab? Und da haben wir nicht die eine Lösung. Wir raten als Dudenredaktion beim Umformulieren von Texten dazu, erst einmal alle anderen Formen zu benutzen, also von Menschen, von alle zu sprechen usw., bis man in die Situation kommt, vielleicht doch ein Zeichen benutzen zu wollen. Und dann kommen wir an die Stelle, die Sie eben geschildert haben.

Wir raten als Dudenredaktion beim Umformulieren von Texten dazu, erst einmal alle anderen Formen zu benutzen, also von Menschen, von alle zu sprechen usw.

Das traditionellste Zeichen ist sicherlich das Binnen-I, das gibt es ja schon seit der Mitte der 80er-Jahre, und Sternchen, Unterstrich und Doppelpunkt sind neuere Formen. Jetzt ist es für den Rat für deutsche Rechtschreibung, um diesen Schlenker zu machen, eine wirklich große Herausforderung, mit diesem Thema umzugehen, denn es gibt allgemein im amtlichen Regelwerk keine Formulierung über Zeichen im Wortinnern. Das betrifft gar nicht nur die Zeichen, die wir jetzt besprechen, sondern auch sowas wie die Schreibung von BahnCard oder WhatsApp, wo wir ja mitten im Wortinnern plötzlich eine Majuskel haben, und das ist eigentlich nicht geregelt. Da gibt es also auch in dieser Richtung Klärungsbedarf. Wir beobachten sowohl in der Dudenredaktion wie auch im Rat für deutsche Rechtschreibung, dass sicher das Sternchen das ist, was sich am stärksten durchsetzt. Im letzten Jahr gab es den Peak hin zum Doppelpunkt – das hatte wahrscheinlich viel mit Aussprachevarianten zu tun, denn das Zeichen soll ja auch sprechbar sein; dies war bei den automatischen Systemen ein Argument für den Doppelpunkt. Wir in der Redaktion finden ihn nicht geeignet, weil er tatsächlich in linguistischen Zusammenhängen ganz anders belegt ist: als Satzgliederungssignal. Deshalb würden wir hier sagen: lieber nicht vermischen.

Das ist das eine. Das andere ist, dass der Rat für deutsche Rechtschreibung ein internationales Gremium ist – das darf man nicht aus den Augen verlieren – und die Situation und Haltung in den einzelnen Mitgliedsländern zum Thema geschlechtergerechte Sprache ist durchaus unterschiedlich. Die Frage stellt sich in Südtirol anders als in Deutschland. Und es kann und soll natürlich niemand überrannt werden, da kommt es also auf den Ausgleich zwischen den Interessen der einzelnen Länder an.

Das vollständige Interview

… ist als Podcast-Interview in unserem Wortcast veröffentlicht worden. Hier gelangen Sie zu dem in zwei Teilen veröffentlichten Gespräch:

Teil 1: Aus der Dudenredaktion

Wir haben Frau Dr. Kunkel-Razum, die Leiterin der Dudenredaktion, zu Gast im Wortcast. In diesem ersten Teil unseres Podcast-Gesprächs erklärt sie, wie ein Wort überhaupt in den Duden kommt, wie viele Wortformen der Duden schon angesammelt hat und inwiefern die Corona-Pandemie auch die Arbeit der Redaktion beeinflusst. Außerdem verrät sie, woher der Duden eigentlich so viel weiß und was mit den Wörtern passiert, die im Laufe der Zeit aussortiert wurden.

Teil 2: Der Duden und das Gendern

Im zweiten Teil unseres Wortcast-Gesprächs mit Frau Dr. Kathrin Kunkel-Razum, Leiterin der Dudenredaktion, sprechen wir über die aktuelle Diskussion um die angebliche Abschaffung des generischen Maskulinums (diesen Teil des Interviews finden Sie auch als Text auf unserer Internetseite), über das Thema Gendern allgemein, über die allgegenwärtige Kritik an Anglizismen – aber auch über die schönen Seiten der Arbeit bei Deutschlands bekanntestem Wörterbuch.