Mehrsprachigkeit an der Schule als sozialer Mehrwert
Zum Buch
Heike Wiese/Rosemarie Tracy/Anke Sennema
Deutschpflicht auf dem Schulhof? Warum wir Mehrsprachigkeit brauchen, 2020
Hardcover, 80 Seiten, ISBN: 978-3-411-74512-8
Immer wieder werden Stimmen laut, auf den Schulhöfen un-seres Landes solle nur Deutsch gesprochen werden. Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit wird häufig als Hindernis und Problem auf dem Weg zu guten Deutschkenntnissen wahrge-nommen.
Die neue Duden-Streitschrift – kurz und pointiert: auf 64 Seiten ein klares Plädoyer dafür, die sprachliche Vielfalt zu nutzen und Herkunftssprachen als gesellschaftlichen Mehrwert zu begreifen.
In Anbetracht der zunehmend durch Migration geprägten Gesellschaft werden in Deutschland, wie in vielen anderen Staaten auch, vermehrt Stimmen laut, die vor dem Verfall der deutschen Sprache sowie einer »doppelten Halbsprachigkeit« (21) von Personen warnen, die mit zwei Sprachen aufwachsen und letztlich keine Sprache ›richtig‹ sprechen. Vorurteile bezüglich Defiziten im Deutschen bestehen insbesondere gegenüber Menschen, deren familiär ›geerbte‹ Sprache – im Fachjargon Heritage-Sprache genannt – über kein hohes Sozialprestige verfügt (wie Türkisch, Arabisch oder Russisch). Als etwa die CSU Ende 2014 – dieses Beispiel findet sich nicht im vorliegenden Buch – in einem Leitantragsentwurf Zugewanderten vorschreiben wollte, im öffentlichen Raum und in der Familie Deutsch zu sprechen, erntete die Partei, auch aus den eigenen Reihen, derart viel Kritik und Spott, dass sie die Verpflichtung wenig später zu einer Motivation abschwächte. Eine Antwort auf die aus solchen bildungspolitischen Debatten abgeleitete Titelfrage Deutschpflicht auf dem Schulhof? geben die Sprachwissenschaftlerinnen Heike Wiese, Rosemarie Tracy und Anke Sennema bereits in der Einleitung ihres nur 80 Seiten umfassenden »Debattenbuch[s]« (71). Dort heißt es:
»Die Beschränkung auf Deutsch im Schulhof und darüber hinaus ist nicht nur nicht zielführend, sie ist überflüssig, diskriminierend und der Lernmotivation abträglich, unter anderem auch, weil sie den Sprachgebrauch vieler Familien und damit die vorhandenen Kompetenzen von Kindern als unerwünscht und unangemessen abwertet, im Unterschied zu den klassischen schulischen Fremdsprachen.« (12 f.)
Dass die Forderung nach einer Verbannung lebendiger Heritage-Sprachen wie Türkisch oder Arabisch von deutschen Schulhöfen »eine Fehleinschätzung und erstaunliche Verschwendung von Ressourcen« (14) sei, demonstrieren die Verfasserinnen in 3 Hauptkapiteln, bevor sie dem Schulwesen abschließend durch 7 konkrete Vorschläge »Wege aus der Einsprachigkeit« (71) – so der Titel des kurzen Schlussteils – aufzeigen. Im ersten und längsten Kapitel wird Mehrsprachigkeit zu Recht als »Normalfall in menschlichen Gesellschaften« (18) dargestellt. Unter Rückgriff auf Ingrid Gogolins Konzept des monolingualen Habitus kritisieren die Verfasserinnen die im Zeitalter des Nationalismus entstandene und bis heute weit verbreitete fälschliche Annahme, dass Deutschland einsprachig [e. Übersehen würden dadurch nicht nur die von Migrantinnen und Migranten mitgebrachten Heritage-Sprachen, die »als neue Minderheitensprachen die Sprachlandschaft bereichern« (31), sondern auch in Deutschland verankerte Sprache wie das Sorbische, das Dänische, das Friesische, das Jiddische, das Romanes und die Deutsche Gebärdensprache. Als bedeutenden Aspekt der Mehrsprachigkeit in Deutschland werten Wiese, Tracy und Sennema zudem die interne Vielfalt des Deutschen mit seinen Dialekten, Stilen und Registern, die stets kontextabhängig sind. »So, wie wir zum Bier mit Freunden nicht im Smoking auftauchen und zu einer Gala nicht in Flip-Flops, passen wir auch unsere Sprache der jeweiligen Situation an.« (27) Selbst deutsche Kinder ohne Migrationshintergrund, die zu Hause nur dialektal kommunizieren, würden »mit dem Eintritt in die Schule im Grunde mehrsprachig« (24), weil sie die deutsche Standardsprache erst erlernen müssten. Gegen die Privilegierung des Deutschen – und genauer der standarddeutschen Varietät (als Sprache der Mittelschicht) – führen die Verfasserinnen auf den letzten Seiten des ersten Kapitels mehrere wissenschaftlich fundierte Argumente dafür an, [w]arum wir Mehrsprachigkeit brauchen, so der Untertitel des Buches. Hierzu zählen u. a. die positiven Auswirkungen von Gehirntraining auf die Gesundheit.
Im zweiten Kapitel plädieren die Verfasserinnen insgesamt für »eine größere Akzeptanz und Wertschätzung sprachlicher Heterogenität« (46) an Schulen. Denn so könnten die Schüler/-innen ihr »Sprachrepertoire« (48), bestehend aus allen angeeigneten Stilen, Registern, Dialekten und Sprachen, nutzen und gleichzeitig von dem Sprachrepertoire anderer Kinder und Jugendlicher profitieren. Auf dem Schulhof und in den Fluren ist diese Anregung nicht nur begrüßenswert, sondern häufig auch schon gelebte Realität. Ob Lehrkräfte darüber hinaus Zeit finden können, die sprachlichen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen durch die Thematisierung von Dialekten im Unterricht zu fördern, steht auf einem anderen Blatt. Dieser idealistische Vorschlag dürfte in der Praxis nur schwer umsetzbar sein. Hier stellt sich z. B. die Frage, ob mundartliche Texte im Deutschunterricht behandelt werden sollten, wenn viele Schüler/-innen (nicht nur in der Hauptschule) in der Standardsprache nicht richtig lesen oder schreiben können, wie die PISA-Studien der letzten Jahre gezeigt haben. Auch wenn es ›das Deutsche‹ tatsächlich nicht gibt (vgl.44), ist die Rechtschreibung verbindlich und wichtig für das spätere Berufsleben. Ein weiterer Vorschlag zur Förderung der sprachlichen Vielfalt an Schulen ist die Einführung eines Schulfachs »Türkisch«, in dem Anfän-ger/-innen von Heritage-Sprecherinnen und -sprechern »auch umgangssprachliche und jugendsprachliche Formen lernen [könnten], im Klassenzimmer und selbstverständlich auch auf dem Schulhof« (50 f.). Dies würde nach Meinung der Verfasserinnen zudem den sozialen Zusammenhalt in Deutschland fördern.
Im dritten Kapitel wird schließlich argumentiert, dass Mehrsprachigkeit, Sprachwechsel (Codeswitching), Sprachmischung, aber auch die Reflexion und Diskussion darüber (im Rahmen eines neu einzuführenden Kompaktkurses »Sprache«) die Schule an sich stärkten. Es gehe »darum, unseren defizitorientierten Blick durch Kompetenzorientierung zu ersetzen und Schüler*innen die eigenen Fähigkeiten und die in ihren Familien vorhandenen Kompetenzen ins Bewusstsein zu rücken« (67 f.). Neben mehreren Vorteilen in Bezug auf den Lernerfolg in der Schule (vgl. 62 f.) sehen die Verfasserinnen in der Mehrsprachigkeit ein
»zusätzliches Potenzial für die Kooperation von Schule und Familie: Wenn neu zugewanderte Kinder Lernstoff auch in ihren Erstsprachen thematisieren können, sind sie besser dazu imstande, zuhause davon zu berichten. Eltern fühlen sich bezüglich der Unterrichtsinhalte besser informiert, Themen können zuhause vertieft werden, die Eltern werden in die Lage versetzt, ihre Kinder bei Hausaufgaben zu unterstützen, und erfahren nicht zuletzt auch selbst auf dies Weise eine stärkere Wertschätzung vonseiten der Schule.« (62)
Die Schlussfolgerung fasst das deutliche Plädoyer des gesamten Buches für Mehrsprachigkeit an der Schule in 7 Anregungen zusammen, von denen einige nicht nur sinnvoll, sondern auch praktikabel erscheinen. Der erste und wichtigste Schritt wäre wohl »die selbstverständliche Anerkennung aller Schüler*innen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, als Sprecher*innen des Deutschen« (72). Ob dagegen für einen Kurs »Sprache« oder die Erweiterung des Fremdsprachenangebots um große Heritage-Sprachen in naher Zukunft deutschlandweit ein politischer Wille gefunden werden kann, ist mehr als zweifelhaft. Hier zeigt sich zudem ein Stadt-Land-Gefälle, das in dem ansonsten lesenswerten Buch unerwähnt bleibt. Während es an einigen Berliner Schulen bereits entsprechende Fremdsprachen-angebote gibt, dürfte ein Türkisch- oder Arabischkurs in ländlichen Gegenden deutlich weniger relevant sein und meist ohne die Präsenz von Heritage-Sprecherinnen und sprechern stattfinden, die von den Verfasserinnen für »die Lernmotivation« (51) als besonders förderlich hervorgehoben wird. Unabhängig von solchen Kritikpunkten ist dem Buch eine breite Leserschaft zu wünschen, weil es den Menschen in einer auch für Laiinnen und Laien verständlichen Sprache den sozialen Mehrwert von Mehrsprachigkeit an der Schule überzeugend vor Augen führt.
Christian Palm