Niedliches Niederländisch

Verglichen mit Deutschland sind die Niederlande ein relativ kleiner Staat. Diese Feststellung ist zum einen unspektakulär und hat zum anderen nichts mit Sprache zu tun. Gehört sie dann überhaupt hierher? Man kann immerhin einmal den Versuch unternehmen, sich der relativen Kleinheit bzw. Größe aus sprachlicher Sicht zu nähern.

Sowohl das Niederländische als auch das Deutsche (wie auch zahlreiche andere Sprachen) haben die Möglichkeit, Verkleinerungsformen zu bilden, aus einem Hund ein Hündchen zu machen oder aus einem hond ein hondje. Da Deutsch und Niederländisch eng verwandte Sprachen sind, überrascht diese Gemeinsamkeit kaum.

Verblüffend sind jedoch die Unterschiede im Gebrauch dieser Verkleinerungsformen. Im Deutschen spielen sie eine völlig untergeordnete Rolle und werden vor allem für kleine Tiere (Kätzchen) oder als Koseformen (Schätzchen) verwendet. Im Niederländischen dagegen begegnet man diesen Formen auf Schritt und Tritt in nahezu jeglicher Art von Texten. Vom deutschen Sprachgebrauch her noch nachvollziehbar ist es, dass Freunde von Modelleisenbahnen von einem treintje ›Züglein‹ sprechen: Modelleisenbahnen sind klein, und für manchen Liebhaber vielleicht auch ein Gegenstand, den man liebevoll, also mit einer Koseform, sprachlich benennt.
Dass aber in einer Zeitungsmeldung über einen Unfall an einem Bahnübergang, bei dem eine Autofahrerin die Kollision mit einem Zug schwer verletzt überlebt hat, die Rede davon ist, dass ein dieseltreintje ›Dieselzüglein‹ den PKW gerammt habe, überrascht schon etwas. So ein Zug ist weder klein, noch besteht – zumal im vorliegenden Zusammenhang – ein Grund, besondere Zuneigung für den Stahlkoloss zu empfinden.

Aber da liegt eben genau der Unterschied zwischen den beiden Sprachen. Im Niederländischen lässt sich sprachlich so gut wie alles verkleinern, vom telefoontje ›Telefönchen‹, was sowohl ein Handy bezeichnen kann als auch ein Telefongespräch(chen), über pijntje ›Schmerzchen‹ (so der Name einer niederländischen Internetsuchmaschine, die eine komplette Übersicht über Ärzte, Spezialisten, Krankenhäuser und Versicherer verspricht), bis zum hartaanvalletje, also einem ›Herzanfällchen‹.

Nun kann man sicherlich auch im Deutschen von mehr oder weniger starken Schmerzen sprechen, und sowohl deutsche als auch niederländische Ärztinnen und Ärzte können bei einem Herzinfarkt unterschiedliche Schwere diagnostizieren. Von einem Herzanfällchen ist dabei jedoch auch bei leichtester Ausprägung des Befundes nie die Rede, und das Wort Schmerzchen findet man im Internet lediglich in sehr formlos gehaltenen Forumsbeiträgen, wahlweise zu den Themen Liebeskummer oder Kreuzbandriss.

Mögen gerade Beispiele aus dem medizinischen Bereich aus der Sicht des Deutschen fast ein wenig zynisch anmuten, soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass die ungewöhnlichen Verkleinerungen an anderer Stelle durchaus Charme entfalten: Während deutsche Politiker/-innen in ihren Wahlkreisen hin und wieder etwas abhalten, was mit sehr technokratischem Beigeschmack als Bürgersprechstunde bezeichnet wird, laden die niederländischen Kolleginnen und Kollegen gerne zu einem ungleich gemütlicher klingenden vraaguurtje ›Fragestündchen‹ ein. Da könnten wir uns an unserem kleinen Nachbarn doch vielleicht das eine oder andere gute Beispiel nehmen – und ungeachtet der unterschiedlich großen geographischen Ausdehnung den Charme der Verkleinerungsform für das Deutsche entdecken.

Nicola Frank