Ausgabe: Der Sprachdienst 3-4/2021

»Sag, was du denkst. Aber bedenke, was du sagst.«

Buchinfo

Hans-Jürgen Heringer
Stichelwörter zur Lebensweisheit
Softcover, 182 Seiten, ISBN: 978-3-8260-7229-1, Königshausen & Neumann

Natürlich geht es um Aphorismen, unterkringelte Stellen in dicken Büchern.
Eine gute Leserin ist mehr wert als ein guter Schreiber – sagt der Schreiber.
Kurz und knackig sind sie allemal und angenehm gewürzt mit feinen Doodles von Yamina Sehad.
Freiheit kommt erst recht zum Leben, wenn sie im Sterben liegt.
Entscheidungen haben eine Stärke: Man erfährt nie, was gewesen wäre, wenn …
Sehnlichster Wunsch des Autors: Mögen sie zu Trivialitäten werden, zu denen jede/jeder nickt und sagt: Das stimmt!!!

Das Bedürfnis, Lebensweisheiten für die »Mit«- oder Nachwelt zu sammeln, ist in Europa (fast) so alt wie die europäische Kultur selbst. Als eine eigene literarische Gattung sind Aphorismen über den Status von Gelegenheitsfeststellungen erhoben. Sie wollen ernst genommen werden, wenn sie auch nicht in jedem einzelnen Fall ganz ernst gemeint sein mögen. Das gilt auch für eine der jüngsten Sammlungen dieser Art, die »Stichelwörter zur Lebensweisheit« von Hans-Jürgen Heringer.

Heringer, Professor emeritus für Germanistische Linguistik und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Augsburg, Sprachkritiker und Sprachdidaktiker, wäre nicht Heringer, wenn seine Lebensweisheiten nicht ein Stück weit gegen den Weisheits-Mainstream löcken würden: Stichelwörter, eben. Da lernt die geneigte Leserschaft im Zeitalter des Diätwahns, »Diät macht heiß aufs Essen« oder dass »etwas Anderes immer etwas anders« ist. Eine Binsenweisheit? Nein. Wer sich wie Heringer intensiv mit interkultureller Kommunikation beschäftigt hat, wird einer solchen Feststellung angesichts des immer alltäglicher werdenden Umgangs zwischen Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen das ihr gebührende Gewicht beimessen – wenn er ihr nicht hinterhersinniert, was genau in Heringers Sinne sein dürfte.

Auf rund 170 Seiten sind weit über 600 »Stichelwörter zu Lebensweisheiten « zusammengetragen, sortiert in 5 Kapitel von »All-Gemeinheiten«, über »Schwarzweisheiten«, »Psychismen« und »Drehschwindeleien« bis hin zu »Kalauereien«. Schon diese Wortwahl zeigt den Lesenden, wohin die Reise mit Heringer geht. Langweilig ist sie nicht. Allerdings müssen sie ihren Weg durch die Stichelwörter selbst finden, denn auf eine erklärende Einführung verzichten Autor und Verlag ebenso wie auf ein – wenn auch noch so kurzes – Inhaltsverzeichnis.

Viele von Heringers Aphorismen sind ihrer Form nach Postulate (»Jeder Traum gibt dir Raum.«), andere öffnen als Fragen das Tor zum Weiterdenken (»Wie wäre es denn, wenn es anders wäre?«). Nicht zu übersehen: eine selbstironische Ich-Bezogenheit (»Arbeit ist süß. – Aber ich bin Diabetiker!«) Wer die Stichelwörter liest, erfährt nicht wenig über den Autor selbst.

Wenn man sich in einer Gattung bewegt, die auf die eingangs angedeutete Tradition zurückblicken kann, bleiben Ähnlichkeiten mit Altbekanntem nicht aus. Dass Vorurteil und Unwissen in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zueinander stehen – bei Heringer sind sie Geschwister – haben auch schon andere so gesehen. Für den englischen Essayisten und Schriftsteller William Hazlitt (1778–1830) zum Beispiel ist das Vorurteil das Kind der Unwissenheit. Aber ein Schuft, der gegen solches stichelt. Lebensweisheiten sind keine Erbhöfe, und manche Wahrheit kann gar nicht oft genug wiederholt werden. Heringer sagt: »Du weißt, was wahr ist. – Alles, was du weißt, ist wahr.« Wohl wahr!?

Matthias Wermke
ISZ, Universität Heidelberg