Uni, bi, tri – multilateral
Kürzlich bekannte sich Angela Merkel in ihrer Rede auf dem Deutschen Katholikentag zum Multilateralismus. Jetzt ist das an sich nichts Neues, schon gar kein neues Wort – und dennoch hört man es im Gegensatz zu Bilateralismus recht selten, wodurch es für uns in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Die Präfixe bi- (›zwei‹) und multi- (›viele‹) dürften bekannt sein, doch was genau ist lateral? Bei näherer Betrachtung erweist sich dieses Wort als durchaus facettenreich und produktiv.
Multilateralismus ist laut Duden das »System einer vielfach verknüpften Weltwirtschaft mit allseitig geöffneten Märkten«. Vergleicht man diese Definition mit der des Adjektivs multilateral, so fällt auf: Das Substantiv hat eine etwas spezifischere, eingeschränkte Bedeutung, denn nur ein einziges Wort in dieser Definition lässt, eingebettet in einen politisch-wirtschaftlichen Kontext, auf den Bestandteil (multi-)lateral schließen: nämlich allseitig. Lateral geht zurück auf das lateinische lateralis, zu latus ›Seite‹, und bedeutet ›seitlich, die Seite betreffend, von der Seite ausgehend‹. Erst seit dem 20. Jahrhundert wird es hierzulande fachsprachlich verwendet, hat also noch keinen Eingang in die Allgemeinsprache gefunden. Multilateral heißt somit nichts anderes als ›mehrere Seiten, mehr als zwei Vertragspartner betreffend, mehrseitig‹. Deutlicher wird dies in der Wortdefinition der Bundeszentrale für politische Bildung, die ebenfalls auf einen politischen Rahmen verweist: »Als M[ultilateralismus] […] bezeichnet man allgemein die Koordination nationaler Politik zwischen drei oder mehr Staaten.« Während lateral also per definitionem nicht einem bestimmten Verwendungskontext zuzuschreiben ist, sind die meisten Verbindungen mit diesem Wort im Bereich der Politik bzw. Wirtschaft anzutreffen: Neben multilateral begegnet das Adjektiv bilateral besonders häufig, es bedeutet ›zweiseitig, von zwei Seiten ausgehend, zwei Seiten betreffend‹. Bezeichnet werden damit Beziehungen, Abkommen, Gespräche, Zusammenarbeit etc. zwischen zwei Ländern bzw. Interessengruppen. Trilateral bezieht sich entsprechend auf die koordinierte Politik/Wirtschaft von drei Staaten, Unilaterales betrifft dagegen nur eine Seite, einen Staat, geht von nur einer Seite aus. Vorsicht allerdings bei dem Wort quadrilateral: Zwar würde es sich schön in diese Reihe einfügen, doch es gehört hier nicht her, ist nicht einmal ein Adjektiv: Ein quadrilateral stammt aus dem Bereich der Mathematik und bezeichnet – englisch! – ein Viereck; anders als im Deutschen werden hierbei nicht die Ecken, sondern die Seiten gezählt. Auch in der Medizin finden sich Verbindungen mit lateral: Dort spricht man etwa von monolateral (nicht unilateral), wenn nur eine Seite des Körpers betroffen ist, in dem Sinne ›einseitig‹. Semilateral ist dagegen ›halbseitig‹, wird jedoch zumindest vom Duden nicht einer spezifischen Fachsprache zugeschrieben. In der Sprachwissenschaft ist das Wort lateral ganz ohne Affixe anzutreffen, besonders als Substantiv Lateral: Ein solcher bezeichnet einen spezifischen Laut (Laterallaut), der nicht zentral, sondern eben lateral, seitlich produziert wird: Der laterale Laut [l] beispielsweise entsteht, indem die Zunge den Luftstrom daran hindert, zentral aus dem Mund zu fließen, und er sich seitlich an der Zunge vorbei nach außen bewegt. Sogar ein Verb gab es einmal zum Adjektiv lateral: Laterieren mit der Bedeutung ›seitenweise zusammenzählen‹, zu lateinisch laterare ›mit Seiten(teilen) versehen‹, gilt heute als veraltet.
Bleibt noch das Adjektiv kollateral: Ganz nüchtern bedeutet es ›seitlich [angeordnet], nebeneinander‹. Wie kommt es dann, dass man dennoch vorwiegend Negatives mit diesem Wort assoziiert? Das liegt vermutlich an dem Kompositum, als dessen Bestandteil man es zumeist antrifft: Kollateralschaden. Hierbei handelt es sich um einen Schaden, der nicht beabsichtigt war, aber im Zuge einer (z. B. militärischen, zumeist kriegerischen, zerstörerischen) Aktion entstanden ist und in Kauf genommen wird. Selbst der schlimmste nicht beabsichtigte Schaden, der Tod von Personen/Zivilisten, wird durch dieses Wort verhüllt – insofern ist es wohl als Euphemismus, Beschönigung anzusehen. Diese Verbindung von kollateral führt dazu, dass selbst Komposita wie Kollateralerbe, Kollateralverwandte bedrohlich wirken (wenngleich sie wohl eher selten anzutreffen sind) – obwohl sie etwas (hoffentlich) so Harmloses wie die Erben bzw. Verwandten aus einer familiären Seitenlinie bezeichnen. Kollateral wird übrigens tatsächlich korrekt mit einem Doppel-l geschrieben: Zugrunde liegt das lateinische Präfix con- (›mit‹), das vor lateral zu col- assimiliert wurde.
Ja, so vielseitig ist dieses Wort, das doch eigentlich erst durch den Zusatz multi- wirklich ›vielseitig‹ wird. Bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass in der aktuellen Weltpolitik die verschiedenen lateralen Beziehungen und Bedeutungen nicht durcheinandergeraten.
Frauke Rüdebusch