Verständlichkeit als Bürgerrecht?

Karin M. Eichhoff-Cyrus und Gerd Antos (Hgg.). Mannheim u. a.: Dudenverlag 2008. 384 Seiten. ISBN 3411043148 (= Duden. Thema Deutsch, 9). 25 €.

Diese Rezension erschien unter dem Titel »Bierdeckel und Tsunami – Symbole für (un)verständliche (Steuer-)Gesetze« zuerst in der Zeitschrift Deutsches Steuerrecht, Heft 51-52/2009, Seite XVIII. Wir danken der Redaktion für die Publikationsgenehmigung.

Buchcover: Verständlichkeit als Bürgerrecht?

Die Größe eines Bierdeckels als ausreichender Umfang für die Steuererklärung ist zum Hoffnungssymbol für ein einfaches und verständliches Steuerrecht geworden. Angesichts der beklagenswerten Unverständlichkeit unserer Steuergesetze verwundert es nicht, dass das Steuerrecht in sechs der insgesamt 26 Beiträge des Besprechungsbandes angesprochen wird. Dies ist umso bemerkenswerter, als sich kein Steuerfachmann unter den Autoren befindet; der illustre Kreis umfasst nicht nur Rechts- und Sprachwissenschaftler sowie Praktiker aus dem gesamten Rechtsleben sondern auch Journalisten, Minister und andere Politiker. Ihrem jeweiligen Expertenwissen verdanken wir – auch einzeln – lesenswerte Beiträge, die auch einige aus dem allgemeinen Rahmen fallende Spezialthemen behandeln, wie die »Gleichbehandlung von Frauen und Männern in Rechtstexten«, die »Unverständlichkeit des Rechts aus historischer Sicht«, die »Verständlichkeit von allgemeinen Versicherungsbedingungen«, die »Bandwurmsätze und Wortungetüme in der sozialen Pflegeversicherung«, und sogar den »strategischen Gebrauch der Sprache in der Politik« (von S. Leutheuser-Schnarrenberger).

Der Besprechungsband ist in drei Abschnitte gegliedert: (1) Möglichkeiten und Grenzen der Verständlichkeit von Rechtstexten, (2) Politik, Recht und Sprache und (3) Bürgernahe Rechts- und Verwaltungssprache.

Bereits im Einführungsbeitrag fordert der Leiter des Zentrums für Rechtslinguistik der Universität Halle, der Germanist G. Antos, unter Berufung auf BFH-Präsident W. Spindler mehr Verständlichkeit für Steuergesetze, wenn schon nicht für den Laien, so doch wenigstens für den Fachmann. Er hält es für eine notwendige aber auch realisierbare Minimalforderung, bei der sprachlichen Textgestaltung von Gesetzen alle überflüssigen »Verständlichkeitsbarrieren« zu beseitigen.

Mit den (praktischen) Erfahrungen, Möglichkeiten und Grenzen bei dieser sprachlichen Optimierung befassen sich weitere Autoren, u. a. S. Thieme, die Leiterin des Redaktionsstabs, der seit April 2009 beim BMJ zur Sprachberatung aller Bundesministerien existiert und auch für Steuergesetze zur Verfügung steht. Die Unverständlichkeit vieler Gesetze beruht nicht allein auf sprachlichen Mängeln, sondern vor allem auf ihrem vereinfachungsbedürftigen Regelungsinhalt. Dazu gehört u. a. die Anknüpfung an Sachverhalte, die schwer zu erkennen, festzustellen, nachzuweisen und/oder zu überwachen sind. Darüber hinaus wird manches Gesetz durch ungenügend aufeinander abgestimmte Detailregelungen und Änderungen zu einem reinen Irrgarten. Solche Verständlichkeitsbarrieren sind das Ergebnis von (partei-) politischen Interessen und Kompromissen sowie von Lobbyistentätigkeiten und können nicht mit sprachlichen Mitteln beseitigt werden. Für inhaltlich einfache Gesetze ist nur die Politik verantwortlich und zuständig. Allerdings können Linguisten einen Beitrag dazu leisten. Denn sprachliche Strukturierungen können den Nebeneffekt haben, dass sie inhaltliche Ungereimtheiten im Gesetz aufdecken und dadurch zu einem klareren Gesetzesinhalt führen können. Dies zeigt beispielsweise RD M.Schmid aus dem BMJ anhand der Neuregelung des »längsten und dunkelsten« BGB-Paragraphen zum Versorgungsausgleich.

Eine vermeidbare Folge unverständlicher Gesetze sind Anwendungsschwierigkeiten. Sie führen auf Verwaltungsebene zur Veröffentlichung massenhafter und umfangreicher Dienstanweisungen sowie zu einem bürokratischen Schriftverkehr – alles in »Amtsdeutsch«. Diese Verwaltungssprache ist in zahllosen (Antrags- und Fragebogen-) Formularen sowie Textbausteinen zur Produktion von Briefen, Belehrungen und Entscheidungen weit verbreitet. Sie verständlicher zu machen, ist Anlass und Gegenstand mehrerer Abhandlungen. Sie beruhen auf praktischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Untersuchungen und weisen Wege zu Bürokratieabbau und bürgerfreundlicher Verwaltung.

Im letzten Beitrag des Bandes streift J. Limbach, die ehemalige Präsidentin des BVerfG und des Goetheinstituts, mit ihren Ausführungen zur »Sprachzucht als Beitrag zur Demokratie« auch noch einmal das Steuerrecht, und zwar mit dem Enzensberger-Zitat, dass Vorschläge zur Steuerrechtsvereinfachung umso »weniger Aussicht auf Verwirklichung« haben »je vernünftiger sie sind«. Ein signifikantes Beispiel für diese Feststellung sind die Reformentwürfe eines ESt- und eines USt-Gesetzbuches von P. Kirchhof, zu dessen Ruf auch sein Engagement für die Verständlichkeit von Rechtstexten und seine Auszeichnung mit dem Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache im Jahre 2005 beigetragen haben. Das Enzensberger-Zitat erhält seine spiegelbildliche Bestätigung zusätzlich durch die vermeintlichen »Reformen« der Unternehmen und Erbschaftsteuer, die der Wirtschaftsweise W. Wiegard kürzlich in der Universität Regensburg als steuerrechtliche »Komplikations-Tsunamis« bezeichnet hat. Gegen Großschäden durch Flutwellen nach Seebeben sollen Frühwarnsysteme helfen, um der Naturkatastrophe auszuweichen. Dies ist bei der (Steuerrechts-)Katastrophe nicht mehr möglich. Vielmehr muss die Flut unverständlicher Gesetze künftig eingedämmt und verhindert werden. Wer sich an der Meinungsbildung beteiligen will, wie eine verständliche Textgestaltung zur Erreichung dieses Ziels beitragen kann, wird in dem Besprechungsband viele Anregungen und Argumente finden.

Vorwort der Herausgeberin und des Herausgebers

Der freie Zugang zu Wissen wird heute als Grundrecht angesehen. Erst dieses Recht gewährleistet Chancengleichheit und damit eine funktionierende demokratische Gesellschaft.

Eine neue Qualität bekommt dieses Grundrecht durch die fortschreitende »Verrechtlichung« moderner Gesellschaften: Früher ging man in die Schule, machte einen Berufsabschluss oder studierte, ging seinem Beruf nach, fuhr in den Urlaub, stritt sich ab und an mit dem Nachbarn – aber kaum jemand kam auf die Idee, diese Aktivitäten unter der Perspektive des Rechts zu sehen. Heute hingegen wollen bereits Schülerinnen und Schüler, Azubis, Studierende, vom Nichtraucherschutz oder Bußgeldverfahren Betroffene usw. oftmals genau wissen, was „ihr gutes Recht“ ist. Die Gerichte spüren die damit zusammenhängende »Klagewut« vieler Bürgerinnen und Bürger. Aber wie immer man dazu stehen mag: Kaum zu bestreiten ist, dass das Bedürfnis nach einfachem Zugang zum Recht in der breiten Öffentlichkeit immer mehr an Bedeutung gewinnt. Damit steigt für Bürgerinnen und Bürger auch das Bedürfnis, sogar die Notwendigkeit, sich aktiv mit der Rechtssphäre auseinanderzusetzen. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass der Zugang zum Recht nicht durch vermeidbare Barrieren be- oder gar verhindert wird. Das betrifft ganz entscheidend auch den Wortlaut von Gesetzen und Verordnungen. »Zugang zum Recht« bedeutet in dieser Minimalversion: »Mündige Rechtssubjekte« sollten zumindest am Wortlaut (kritisch) kontrollierend nachvollziehen können, was eine bestimmte Passage rechtlich implizieren könnte.

Genau das soll der Buchtitel »Verständlichkeit als Bürgerrecht?« zum Ausdruck bringen, falls er letztlich als Forderung verstanden wird. Dabei ist klar, dass das keine einfache Aufgabe ist, denn: Wie Gesetze oder Verordnungen formuliert werden müssen, hängt von den Erfordernissen und der Komplexität der rechtlichen Materie ab. Insofern lässt sich auch die Verständlichkeit von Gesetzen nicht einklagen. Dennoch räumen immer mehr Juristinnen und Juristen ein: Es gibt zu viele – und zu viele überflüssige – Verständlichkeitsbarrieren. Der Streit geht vor allem darum, ob und wie diese Barrieren identifiziert, analysiert und überwunden werden können. Für diese Aufgabe braucht die damit befasste Rechtslinguistik öffentliche und fachliche Resonanz und Ressourcen. Denn die Herstellung einer allgemeinen Rechtsverständlichkeit kann bestenfalls Ergebnis eines aufwendigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses sein. Dieser Prozess scheint – wie das vorliegende Buch zeigt – unaufhaltsam in Gang gekommen zu sein. Voraussetzung dafür ist, dass die relevanten Personen aus Politik, Justiz und Sprachwissenschaft mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen. Bei zwei öffentlichen Symposien – in Berlin vom 23. bis 25. November 2006 und in Halle (Saale) am 1. und 2. November 2007 – haben sich Fachleute aus Politik und Sprachwissenschaft, Juristinnen, Juristen und interessierte Bürgerinnen und Bürger getroffen, um über das Thema »Verständlichkeit als Bürgerrecht« zu diskutieren. Bei den Vorträgen, die nun hier in überarbeiteter Form vorliegen, sowie in weiteren Beiträgen, die speziell für diesen Band geschrieben wurden, war uns wichtig, dass die Themen nicht nur der Fachwelt, sondern allen Interessierten Einblicke geben und Perspektiven eröffnen.

Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) beschäftigt sich seit Jahren neben der sprachkulturellen Arbeit auch mit der Rechts- und Verwaltungs­sprache. Der Redaktionsstab der GfdS beim Deutschen Bundestag prüft Gesetzesentwürfe, Verordnungen etc. auf sprachliche Korrektheit und Verständlichkeit, und die GfdS ist unter anderem federführend bei einem zweijährigen Projekt »Verständliche Gesetze«, das mit dem Bundesministerium der Justiz (BMJ) durchgeführt wird. Mit wissenschaftlicher Unterstützung des Germanistischen Instituts der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wurde beim BMJ eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die Möglichkeiten testet, sprachliche Beratung sinnvoll und effektiv in den Gesetzgebungsprozess einzubinden.

Unser Dank gilt den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge sowie den Kolleginnen und Kollegen, die an den Vorbereitungen des Bandes beteiligt waren. Hervorgehoben sei die Arbeit von Herrn Thomas Strobel (Gesellschaft für deutsche Sprache), der sich engagiert und kompetent den redaktionellen Aufgaben gewidmet hat. Danken möchten wir auch Frau Dr. Christine Tauchmann (Dudenredaktion) für die Lektorierung der Beiträge.

Karin M. Eichhoff-Cyrus
Gerd Antos

1 – Möglichkeiten und Grenzen der Verständlichkeit von Rechtstexten

  • Antos, Gerd: »Verständlichkeit« als Bürgerrecht? Positionen, Alternativen und das Modell der »barrierefreien Kommunikation«
  • Lück, Heiner: Von der Unverständlichkeit des Rechts. Die historische Dimension aus rechtsgeschichtlicher Sicht
  • Zypries, Brigitte: Juristendeutsch: Handwerkszeug oder Herrschaftsmittel?
  • Lerch, Kent D.: Ultra posse nemo obligatur. Von der Verständlichkeit und ihren Grenzen
  • Wimmer, Rainer: Weltansichten aus sprachlicher und rechtlicher Perspektive. Zur Ontisierung von Konzepten des Rechts
  • Felder, Ekkehard: Grenzen der Sprache im Spiegel von Gesetzestext und Rechtsprechung. Das Konzept der juristischen Textarbeit
  • Fluck, Hans-R.: Verwaltungssprache unter dem Einfluss der Gesetzessprache
  • Iluk, Jan: Die Verständlichkeit der deutschen, österreichischen, schweizerischen und polnischen Verfassung. Versuch einer komparatistischen Analyse
  • Schwintowski, Hans-Peter: Verständlichkeit von Rechtstexten am Beispiel von allgemeinen Versicherungsbedingungen

2 – Politik, Recht und Sprache

  • Bullerjahn, Jens: Über Verständlichkeit und Politik: Man soll nicht nur zur Sache reden – man muss auch zu den Menschen sprechen
  • Leutheusser-Schnarrenberger, Sabine: Politik und Öffentlichkeit: gestörte Kommunikationsbeziehung. Vom strategischen Gebrauch der Sprache in der Politik
  • Otto, Hans-Joachim: Verständliche Gesetze. Möglichkeiten und Grenzen des Parlaments
  • Binding, Lothar: Ein Huhn überquert die Straße … Kommunikation, Sprache und Verstehen
  • Luttermann, Karin: Demokratiegebot: Muttersprachen und Europäisches Referenzsprachenmodell

3 – Bürgernahe Rechts- und Verwaltungssprache

  • Thieme, Stephanie: Recht verständlich? Recht verstehen? Möglichkeiten und Grenzen einer sprachlichen Optimierung von Gesetzen
  • Schmid, Matthias: Ein Blick in die moderne Werkstatt der Gesetzgebung. Erfahrungen bei der Strukturreform des Versorgungsausgleichs
  • Margies, Burkhard: Warum das Amtsdeutsch so beharrlich ist – und wie man es verändern kann
  • Arend, Stefan: »Bandwurmsätze und Wortungetüme«. Die soziale Pflegeversicherung und die deutsche Sprache
  • Blaha, Michaela: Moderne Verwaltung – moderne Sprache? Erfahrungen aus Projekten zu verständlicher Sprache in der Verwaltung
  • Berger, Peter: Post vom Amt – mal verständlich. Bürgerfreundliche Amts- und Verwaltungssprache
  • Nussbaumer, Markus: Der Verständlichkeit eine Anwältin! Die Redaktionskommission der schweizerischen Bundesverwaltung und ihre Arbeit an der Gesetzessprache
  • Schröder, Ole/Würdemann, Christian: Rechtstexte verständlich formulieren. Implementierung einer Sprachanalyse im Gesetzgebungsverfahren
  • Giesler, Volkmar: Das Ringen um gute Gesetzessprache
  • Eichhoff-Cyrus, Karin M.: Rechtssprache im Wandel. Die sprachliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern in Rechtstexten von Bund und Ländern
  • Steiger, Vera: Generisch maskuline Personenbezeichnungen und deren Alternativen in juristischen Texten
  • Limbach, Jutta: Sprachzucht ist ein Beitrag zur Demokratie

4 – Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. W. Christian Lohse, Regensburg