14. Januar 2025
Wörter sind nicht »unschuldig«
Biodeutsch – Unwort des Jahres 2024
Von Jochen A. Bär
Das Unwort des Jahres 2024 ist biodeutsch. Dies wurde am 13. Januar 2025 von einer Jury unter Vorsitz der Marburger Sprachwissenschaftlerin Constanze Spieß auf der Grundlage von über 3000 Einsendungen entschieden.
Das Adjektiv ist eine Zusammensetzung aus dem Wortelement bio- (von griechisch bios ›Leben‹) und deutsch (von germanisch theoda ›Volk‹). Als thiudisk wurden in der ältesten deutschen Sprache die Nichtgelehrten bezeichnet, die kein Latein beherrschten und sich nur im fränkischen, alemannischen, thüringischen oder sächsischen Stammesdialekt verständigen konnten: das einfache Volk. Bei bio- handelt es sich um ein sogenanntes Konfix: eine Einheit, die nicht für sich allein im Satz vorkommen kann, ansonsten aber alle Eigenschaften eines Wortes aufweist, insbesondere eine profilierte Bedeutung. Nur in wenigen, klar umrissenen Fällen begegnet Bio als eigenständiges Wort, nämlich rückgekürzt aus Biologie (»Wir haben heute in Bio ziemlich viele Hausaufgaben bekommen«).
Dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache zufolge bedeutet biodeutsch so viel wie ›ethnisch deutsch, ohne erkennbaren Migrationshintergrund‹, und es ist so selten belegt, dass keine automatisierte Statistik zur Worthäufigkeit erstellt werden kann. Es wurde in den 1990er Jahren geprägt, wahrscheinlich 1996 von dem Kabarettisten und Karikaturisten Muhsin Omurca in ironischer Absicht. Die ersten Fundstellen im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) beim Mannheimer Leibniz-Institut für Deutsche Sprache stammen aus dem Jahr 2004. Das DeReKo ist mit 57,6 Milliarden Wörtern die weltweit größte digitale Textsammlung zur deutschen Gegenwartssprache; für biodeutsch finden sich darin insgesamt aber nur 107 Belege.
Wie es in der Pressemitteilung der Unwort-Jury heißt, wurde biodeutsch ursprünglich »als satirischer Ausdruck verwendet, der mit dem Bio-Siegel als Güte-Siegel für ökologischen Anbau spielte«. Seit mehreren Jahren sei hingegen »eine sehr gedankenlose und unreflektierte, nicht-satirische, also wörtlich gemeinte Verwendung festzustellen. Dabei wird ›Deutschsein‹ naturbezogen begründet, um eine Abgrenzung und Abwertung von Deutschen mit Migrationsbiografie vorzunehmen.«
Diese biologistische Sicht ist problematisch, weil damit Personen aufgrund ihrer Gene für zugehörig oder nicht zugehörig zu einer Gesellschaft erklärt werden. Das ist nicht nur logisch falsch, weil Gesellschaft keine biologische Kategorie ist (schon im Althochdeutschen, wie gesagt, wurde das »Volk« nicht als Abstammungsgemeinschaft, sondern sozialschichtig verstanden). Es ist auch niederträchtig, weil jemand mit den angeblich »falschen« Genen dieser Auffassung zufolge niemals eine Chance hätte, in eine Gesellschaft aufgenommen zu werden – nicht einmal die Möglichkeit, sich die Aufnahme zu verdienen. Und es ist politisch dumm, weil man auf diese Weise gegen das Leistungsprinzip verstößt und Menschen von vornherein ausschließt, die willens und imstande wären, sich in einer Gesellschaft und für sie zu engagieren und sie zu bereichern.
Die »Unwörter des Jahres« werden von einer institutionell unabhängigen Jury ausgewählt. Sie sind nicht zu verwechseln mit den von der Gesellschaft für deutsche Sprache bekannt gegebenen »Wörtern des Jahres«. Bei Letzteren geht es, ohne kritische Wertung, um solche Ausdrücke, die für ein Jahr in besonderer Weise charakteristisch erscheinen. »Unwörter« hingegen sind – nach der Definition des Sprachwissenschaftlers Horst Dieter Schlosser, der 1991 die Unwörter-Aktion ins Leben rief – Wörter oder Wortverwendungen, die es »nicht geben sollte«, weil sie andere verletzen oder beleidigen. Oder in heutiger Formulierung der Unwort-Jury: Ausdrücke, die »gegen sachliche Angemessenheit oder Humanität verstoßen«, indem sie beispielsweise das Prinzip der Menschenwürde verletzen, indem sie undemokratische Gesinnungen bekunden, indem sie Personen diskriminieren, stigmatisieren und diffamieren oder indem sie verschleiernd oder irreführend sind. Die Sprachwissenschaft will keine Wörter oder Wortverwendungen verbieten. Allerdings herrscht heute auch nicht mehr die Meinung vor, dass jeder beliebige Sprachgebrauch von der Linguistik einfach nur zu beobachten und wertfrei zu beschreiben sei. Linguistinnen und Linguisten geht es in der Regel um »guten« Sprachgebrauch. Damit ist nicht »moralisch gut« gemeint, sondern »bewusst«. Wörter sind nicht »unschuldig«; wer redet oder schreibt, sollte sich darüber klar sein, was sie bedeuten und was sie bewirken können. Eine unironische Verwendung von biodeutsch knüpft bewusst oder unbewusst an menschenverachtende Ideologien an, die historisch bis ins 18. Jahrhundert zurückgehen und im 20. Jahrhundert in den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus gipfelten. Die Sprachwissenschaft hat eine gesellschaftliche Verantwortung, auf solche Zusammenhänge hinzuweisen. Aus diesem Grund ist die Wahl von biodeutsch zum Unwort des Jahres 2024 eine gute Wahl.
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Prof. Dr. Jochen A. Bär ist Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache.
Die sprachkritische Aktion »Unwort des Jahres« wurde 1991 ins Leben gerufen und bis 1994 von der Gesellschaft für deutsche Sprache ausgetragen. Seit 1994 wählt eine unabhängige Jury jährlich Wörter, die nach ihrem Empfinden gegen die Prinzipien der Demokratie oder die Menschenwürde verstoßen.
Wortcast-Folge zum Unwort des Jahres
In unserer Wortcast-Folge vom 15.01.2024 sprechen wir mit Constanze Spieß, Sprecherin der Jury für das Unwort des Jahres. Dabei geht es um SPRACHE+RESPEKT im Hinblick auf eben jene Unwörter, auf welche diese Aktion alljährlich aufmerksam macht. Es wird besprochen, welche Kriterien Unwörter erfüllen müssen und warum, und wir fragen, woher sie kommen. Constanze Spieß erklärt und u. a., wie sie die immer stärkere Entwicklung von Wort- und Sprachverboten sieht.