Wuling

Wer das Wort in der Überschrift nicht kennt, dürfte sich in zahlreicher Gesellschaft befinden. Hinten sieht es aus wie eine englische Verlaufsform, und vorne sieht es nach nichts aus, was Bestandteil der deutschen Hochsprache ist. Gibt man das Wort im Internet in eine Suchmaschine ein, erhält man viele Treffer, in der Mehrzahl (auch bei Beschränkung auf deutschsprachige Seiten) den chinesischen Berg Wuling oder eine gleichnamige chinesische Automarke betreffend. Beides dürfte aber kaum gemeint gewesen sein bei einer zufällig gehörten Äußerung, in der »von dem ganzen Wuling« an den Publikumstagen der Frankfurter Buchmesse die Rede war.

Blickt man in der Trefferliste nun über alle chinesischen Berge und Autos hinweg, entdeckt man schließlich, dass es das Wort Wuling (manchmal auch Wuhling) im Deutschen tatsächlich gibt. Es hat sogar einen eigenen Eintrag in der Internetenzyklopädie Wikipedia. Es handelt sich um ein fachsprachliches Wort, einen Begriff aus der Seefahrt. Laut »Seemannssprache. Wortgeschichtliches Handbuch« von Friedrich Kluge (1911) ist ein Wuling ›ein Tau, welches zum Umwickeln und Zusammenschnüren zweier oder mehrerer Stücke Holz verwendet wird‹. Das passt zu der zitierten Äußerung allerdings kaum besser als der chinesische Berg, denn was soll man mit einem Tau auf der Frankfurter Buchmesse anfangen?

Mit Wikipedia kommt man des Rätsels Lösung ein Stück näher: Dort heißt es, dass Wuling heutzutage »durcheinandergeratene Leinen« bezeichnet sowie »in übertragener Bedeutung […] ein Gedränge oder Durcheinander von Personen«. Das trifft es dann schon eher; wer jemals die Frankfurter Buchmesse besucht hat, wird bestätigen können, dass Gedränge und Durcheinander von Personen ein Hauptcharakteristikum dieser Veranstaltung ist, ein einziges Wuling also.

Ein schönes, ein nützliches Wort, sollte man meinen. Und was steht im Rechtschreibduden? Zwischen wühlerisch und Wühlmaus steht nichts, zwischen Wulfila und Wulst steht auch nichts. Das ist bedauerlich und liegt daran, dass das Wort Wuling eben nur in Teilen des deutschen Sprachraums geläufig ist. Die Treffer, die man im Internet durch Suchmaschinen erhält, zeigen ganz deutlich, dass die fachsprachliche Verwendung häufig vorkommt. Salopp gesagt: Überall, wo schiffbares Wasser in der Nähe ist, kennt man Wuling in wörtlicher und übertragener Bedeutung. Hauptsächlich in der übertragenen Bedeutung scheint es vor allem im Osten geläufig zu sein. Im »Kleinen Wörterbuch der Jugendsprache« der Leipziger Sprachwissenschaftlerin Margot Heinemann ist es in der Form Wuhling verzeichnet. Und man findet es auch auf den Forumsseiten des Fußballvereins Dynamo Dresden, ein Jugendtheaterprojekt aus Leipzig trägt es im Titel, und der Frettchenstammtisch Greifswald verbreitet sich über das Wuling, das der Frettchennachwuchs veranstaltet.

Uneinigkeit herrscht darüber, ob es der, die oder das Wuling heißt. Aber was spielt das bei so einem schönen Wort auch für eine Rolle? Vielleicht findet es ja auch im übrigen deutschen Sprachgebiet noch ein paar Freunde, und in den Wörterbüchern wäre dann sicher noch ein Platz frei.

Nicola Frank