Gibt es den Buchstaben ÿ, ein Ypsilon mit zwei Punkten?
[F] In der Süddeutschen Zeitung wurde kürzlich das Tagebuch des Herzogs Emanuel von Croÿ besprochen. Auch auf einem Schild am Rektorenhaus des Konrad-Duden-Gymnasiums in Bad Hersfeld, worin sich heute das Konrad-Duden-Museum befindet, wurde das Ypsilon mit diesen zwei Punkten geschrieben. Dort heißt es Gÿmnasium. Was verbirgt sich hinter dieser Schreibweise des Ypsilons?
[A] Die zwei Punkte über dem Ypsilon (¨) bezeichnet man als Trema. Hierbei handelt es sich um ein diakritisches Zeichen, das üblicherweise über dem zweiten von zwei aufeinanderfolgenden Vokalen steht, wenn diese getrennt ausgesprochen werden sollen wie z. B. bei frz. naïf ›naiv‹ (vgl. »Duden – Richtiges und gutes Deutsch«, Mannheim 2007). Das Trema ist im heutigen Standarddeutsch eigentlich nicht gebräuchlich, jedoch kommt es bisweilen bei Eigennamen und Fremdwörtern vor.
So kann das Trema z. B. bei Herzog Emanuel von Croÿ der Kennzeichnung einer Aussprache wie kro-i bzw. kru-i (im Gegensatz etwa zu einer Aussprache wie [krwa] bzw. [kroa], ähnlich wie bei frz. le roi, ›der König‹), dienen. Bei der alten Schreibweise Gÿmnasium hingegen erscheint das Trema, ohne dass zwei Vokale aufeinanderfolgen. Hier vermuten wir eine hinweisende Funktion, die die Aussprache des Ypsilons als ü bekräftigen soll.
Es ist nachweisbar, dass in deutschen Texten schon im Mittelalter gelegentlich das Trema über die griechischen Buchstaben Iota, Lautwert [i], und Ypsilon, Lautwert [ü], gesetzt wurde. Belege zur Schreibweise Ï, ï bzw. Ÿ, ÿ finden sich z. B. bei Carl Faulmann, »Das Buch der Schrift«, Frankfurt am Main 1990. Diese Entwicklung lässt sich mit der frühneuhochdeutschen Sprachvielfalt in Verbindung bringen.
Besonders im 16. und 17. Jahrhundert, in der Renaissance und im Barock, sind Schreibweisen wie zwaÿ, Maÿ, Julÿ, Kaÿser oder seÿn zu finden, seltener einige für unser heutiges Sprachgefühl seltsam anmutenden Schreibungen wie wÿr (›wir‹). In dieser Zeit wurden auch Ortsnamen oder Namen von Regionen wie z. B. Steÿr, Tÿrol und Kÿburg oft mit ÿ verschriftet (vgl. Friedrich Beck/Lorenz Friedrich Beck, »Die lateinische Schrift. Schriftzeugnisse aus dem deutschen Sprachgebiet vom Mittelalter bis zur Gegenwart«, Köln u. a. 2007).
Diese Schreibweisen waren jedoch keinesfalls einheitlich. So finden sich z. B. in einer Urkunde zu einem Erbteilungsvertrag zwischen Kurfürst Joachim I. von Brandenburg und Valentin von Arnim zu Boitzenburg aus dem Jahr 1525 auch einige Wörter, die teils mit y, teils mit ÿ geschrieben wurden, beispielsweise ÿm/ym (›im‹) und sÿnen kindern/synen vier Sonen (›seinen Kindern/vier Söhnen‹; vgl. »Die lateinische Schrift. Schriftzeugnisse aus dem deutschen Sprachgebiet vom Mittelalter bis zur Gegenwart«). Es ist nicht davon auszugehen, dass hier die oben postulierten Vermutungen bezüglich der Ausspracheveränderung bzw. -kennzeichnung ebenfalls zutreffen.
Ob diese Schreibweisen als Modeerscheinung (etwa in Anlehnung an die französische Sprache, in der Schreibungen mit Trema durchaus vorkommen), als Aussprachehilfen oder vielleicht auch als handschriftliche Eigenheiten der Schreiber anzusehen sind, lässt sich nicht eindeutig klären.
Das ÿ ist auch in anderen Sprachen und Schriftsystemen selten, fand aber zuweilen Gebrauch im Niederländischen und Frühneuhochdeutschen als Ersatz der Buchstabenfolge ij, zu der ohnehin gerade bei Handschriften eine große Ähnlichkeit bestand. Auch im Griechischen und Walisischen kommt das ÿ vor, allerdings nur sehr selten.
Heutzutage findet sich das ÿ somit fast nur noch in überlieferten Namen und Ortsnamen, es werden keine neuen Wörter mehr mit ÿ gebildet. Bisweilen wird aber die Seltenheit des ÿ vor allem bei selbstkreierten Künstlernamen verwendet, um Aufmerksamkeit zu erregen, und so wird das ÿ dort ohne jegliche Funktion eingesetzt, z. B. bei der US-amerikanischen Metal-Band Queensrÿche: Auch hier handelt es sich um ein Ypsilon mit Trema. Jedoch gibt es auch andere Schreibweisen von Bandnamen, die an ein Trema erinnern – aber nicht damit zu verwechseln sind! –, so z. B. bei der Band Motörhead, wo der Umlaut des o ebenfalls keine Funktion besitzt und als [o] ausgesprochen wird. In der Popkultur spricht man deswegen auch vom sogenannten »Heavy-Metal-Umlaut«.