Beiträge zur Sprachkultur. Aus Anlass des 70-jährigen Bestehens der Gesellschaft für deutsche Sprache
Zur Einführung in das Themenheft
Anlässlich des 70-jährigen Bestehens der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) fand im April letzten Jahres eine Tagung zum Thema »Sprachkultur im 21. Jahrhundert« statt mit dem Ziel, einerseits unsere bisher erbrachte sprachkulturelle Arbeit zu reflektieren, andererseits die zukünftigen sprachkulturellen Aufgaben für die GfdS auszuloten. Auf der Folie dieses Programms behandeln die vorliegenden Beiträge Aspekte, die für die Arbeit der GfdS im Hinblick auf Sprachkultur und gesellschaftliche Praxisfelder relevant sind. Doch bevor ich auf diese Aspekte eingehe, möchte ich einige wenige Worte zum Begriff der Sprachkultur voranstellen.
Wenn wir von Sprachkultur reden, dann hat der Begriff gemeinhin die Färbung von Hochsprache, gebildeter Sprache, Literatursprache. So wundert es nicht, dass davon abweichende beobachtete oder zu beobachten geglaubte sprachliche Eigenschaften als defizitäre sprachliche Entwicklungen klassifiziert und kritisiert werden. Und die Sprachkultur scheint in dieser Perspektive ein Garant für ein stabiles, sinnvolles Zusammenleben der Menschen zu sein, eine die Identität einer Gemeinschaft stabilisierende Kulturleistung, die es zu bewahren und zu schützen gilt – gegen Anfeindungen und Zersetzungsprozesse. Dieser in normativer Sicht gesetzten Sprachkultur, die eher als Sprachideologie zu bezeichnen wäre, werden dann ex negativo jene Aspekte von Sprachkultur entgegengehalten, die Sprachpuristen etwa so artikulieren, als wenn ich ein heruntergekommenes oder verschandeltes Mietshaus sehe und an eine Gründerzeitvilla denke: Sprache und Kultur verfalle oder werde gar bewusst zerstört. Sprachkultur hat sicherlich mit Normen zu tun, aber Sprachkultur ist weder darauf reduzierbar noch ist sie per se ein Maß dafür, wie mit Normen und Abweichungen von der Norm umzugehen ist. Sprachliche Normen, Sprachkultur, Sprachpflege sollten nicht als Kampfbegriffe auf den Schlachtfeldern kultureller und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen begriffen werden, sondern als Konzepte für Verständigung und gegenseitiges Verstehen. Allerdings folgt hieraus nicht ein sprachkultureller Relativismus, demzufolge man nichts akzeptiert, denn sprachkulturelle Arbeit ist eine Arbeit an sprachlichen Praktiken, verbunden mit Werthaltungen im Rahmen von Begründungszusammenhängen. Wenn behauptet wird, ein Wort wie völkisch sei ein dem Wort Volk zugehöriges Attribut und es sei eine unzulässige Verkürzung, wenn gesagt werde, völkisch sei rassistisch,1 so liegt zunächst formal eine regelhafte Wortbildung vor. Aber dies ist nicht der kritische Punkt, und niemand würde gar an dieser Stelle auf die Idee kommen, gegen die Adjektivbildung des Deutschen zu argumentieren. Der kritische Punkt ist vielmehr die intendierte Ablösung der Wortbedeutung aus den historisch vermittelten gesellschaftspolitischen Kontexten, in denen das Wort völkisch gerade nicht ohne den Bezug zur völkischen Ideologie der Nationalsozialisten gesehen werden kann und in denen es bis heute entsprechend konnotiert ist.
Sprachkultur ist ein vielschichtiger Begriff, der unterschiedliche Bedeutungsaspekte und Vorstellungen umfasst. Zum einen wird man an das schriftsprachliche, sprachkulturelle Erbe denken. In einer engen Perspektive ist damit die Luther-Bibel ebenso verbunden wie Goethes Die Leiden des jungen Werther, die Grimm’schen Märchen wie auch Wilhelm Buschs Bilderpossen, Thomas Manns Buddenbrooks. Verfall einer Familie sowie die Gedichte von Peter Rühmkorf. Es sind die Meilensteine im schriftsprachkanonischen Erbe, die man aus dem Blickwinkel der Hochkultur zu bestimmen sucht. In einer erweiterten Perspektive und dadurch, dass man die schriftsprachliche Praxis in das Zentrum der Betrachtung rückt, zählt man alle schriftsprachlichen Produkte zum kulturellen Erbe, deutschsprachige Comics ebenso wie Romane der Populärkultur, Beipackzettel und Gebrauchsanweisungen ebenso wie WhatsApp-Nachrichten und Tweets. Zum anderen wird Sprachkultur als eine symbolische Praxis begriffen, nach der Mitglieder einer Sprach- bzw. Kommunikationsgemeinschaft leben. In diesem Sinne spielen neben immer wieder auszuhandelnden sprachlichen Normen Spracheinstellungen und Konventionen des Sprachgebrauchs wie Höflichkeitsformen, Sprachrituale und Kommunikationsmuster eine Rolle. Kulturalität von Sprache vor diesem Hintergrund und sprachwissenschaftlich fundiert verstanden zielt »auf eine Erklärung sprachlicher Formen durch Faktoren, die dem Sprachgebrauch und den kulturellen Gebrauchsbedingungen zuzuschreiben sind« (Feilke 2016: 17). Sprache als Kultur wird begriffen auf der Folie sozialer Praktiken, im Wittgenstein’schen Sinne als Lebensformen. Als eine umfassende Lebensweise bezeichnet deutsche Sprachkultur in diesem Sinne alle mündlichen und schriftlichen Praktiken, die die Deutschsprachigen vollziehen. Ein solcher Kulturbegriff der Sprache trägt nicht nur den sozialen und kommunikativen Dimensionen Rechnung, sondern reflektiert auch die materiellen Voraussetzungen. Die Bedeutung von Luthers Bibel-Übersetzung als Katalysator für die neuhochdeutsche Standardsprache (vgl. Besch 1967) setzt den Buchdruck ebenso voraus wie der Erfolg von Goethes Werther als Schlüsselroman der Sturm-und-Drang-Epoche, die heutige Standardlautung ist ohne die Verbreitungs- und Normierungskraft von Rundfunk und Fernsehen kaum vorstellbar, der Gebrauch von Emojis und die damit verbundene Verschränkung von ikonografischer und schrifttextueller Information ist vor dem Hintergrund von digitalen Kommunikationsformen zu sehen.
Die GfdS ist eine der ältesten Sprachkulturinstitutionen in der Bundesrepublik Deutschland; sie »setzt sich seit Jahrzehnten für Sprachkultur ein und hat eine wichtige Brückenfunktion, nämlich ausgehend von der Forschung hinein in die Öffentlichkeit zu wirken«2. Dies geschieht auf vielfältige Art und Weise: Zwei mediale Ereignisse sind die zweijährlich stattfindende Verleihung des Medienpreises für Sprachkultur in Wiesbaden sowie die jährliche Aktion »Wort des Jahres«; weitere Schwerpunkte sind die Vornamenberatung und die jährliche statistische Erfassung der Vornamenwahl in Deutschland, Sprachberatung allgemein und speziell im Deutschen Bundestag, Sprache und Politik, Sprache und Medien sowie leichte und verständliche Sprache. All diese Punkte waren auch Gegenstand der Tagung zum 70-jährigen Bestehen der GfdS. In dem vorliegenden Muttersprache-Heft finden sich bis auf den Vortrag von Frau Nübling zum Thema Namen und (Sprach-)Kultur – Luca(s), Jona(s) und Elia(s) als Wegbereiter onymischen Degenderings3 die Ausarbeitungen der gehaltenen Vorträge.
Jochen A. Bär zeigt vor dem Hintergrund einer sprachhistorischen Perspektive, wie sich Kulturgeschichte im Wortschatz widerspiegelt und dass eine historisch-semantische Analyse vielfältige Quellen nutzende Daten und ihre Interpretation erfordert und somit eine sich allein auf digitale Daten stützende Analyse kritisch zu bewerten ist.
Thomas Niehr setzt sich in seinem Beitrag mit dem politischen Wortschatz vor dem Hintergrund einer diachronen Perspektive im Hinblick auf aktuelle Sprachthematisierungen im öffentlichen Diskurs auseinander. Er zeigt einerseits, welche lexikalischen Bereiche der politische Wortschatz umfasst und dass sich in ihm Gesellschaft im zeitlichen Verlauf widerspiegelt, aber auch andererseits, dass die kommunikative und diskursive Dimension in die Analyse einzubeziehen ist. Der Beitrag von Alexa Mathias schließt an den von Niehr unmittelbar an. In ihrer korpuslinguistischen Untersuchung von Facebook-Postings zur Bürgerbewegung Pegida zeigt Mathias an Formen des Lemmas Volk die rechtspopulistischen/-extremen Einstellungen auf, die sich in der Wahl bestimmter Ausdrücke und ihrer Kollokationen reflektieren.
In dem Beitrag von Jens Runkehl steht die digitale Entwicklung der Gesellschaft und die damit verbundene sprachliche Entwicklung im medialen Diskurs. Runkehl entfaltet seine Problemfelder und Positionen anhand von drei Leitfragen: (1) Wie werden sprachliche bzw. kommunikative Phänomene in bestimmten Entwicklungsphasen der digitalen Landschaft wahrgenommen und interpretiert? (2) Welche Veränderungen/Entwicklungen führen (warum) zu veränderten Bewertungen und ggf. (r)evolutionären Habitualisierungen? (3) Kann man aus dem gegenwärtigen Ist-Zustand prospektive Einschätzungen für die Entwicklung des sprachlichen und kommunikativen gesellschaftlichen Miteinanders ableiten?
Einen anderen Bezug zur Sprachöffentlichkeit stellt Jörg Kilian in seinem Beitrag her, indem er sich mit den Bewertungen sprachlicher Leistungen von Schülerinnen und Schülern seitens Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern auseinandersetzt. Bewertungen schulischer sprachlicher Leistungen sind Formen didaktischer Sprachkritik mit dem Ziel, die Sprachkompetenz von Lernenden zu fördern und somit den Sprechenden/Schreibenden eine sprachliche und kulturelle Teilhabe in der Kommunikationsgemeinschaft und somit auch eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Ausgehend von einer Darstellung der Sachlage berichtet Kilian von einem durchgeführten Pilotprojekt zur didaktischen Sprachkritik in der Praxis des Deutschunterrichts.
Die beiden letzten Beiträge sind von Mitarbeitenden der GfdS verfasst. Lutz Kuntzsch und Frauke Rüdebusch setzen sich mit der in der Satzung der GfdS festgelegten Aufgabe der Sprachpflege vor dem Hintergrund der Kulturalität von Sprache auseinander. Zwei Hauptfunktionen sind hier relevant, nämlich einerseits in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die deutsche Sprache zu schaffen bzw. zu vertiefen und andererseits eine Brücke zwischen Sprachwissenschaft und Öffentlichkeit herzustellen. An den drei Praxisfeldern »Vornamenberatung«, »Sprachberatung« und »Verständliche Verwaltungssprache« wird in dem Beitrag aufgezeigt, inwieweit die GfdS sich mit diesen Schwerpunkten für Sprachkultur einsetzt, um ihren Zielen einer wissenschaftlich fundierten Sprachpflege gerecht zu werden. Sibylle Hallik berichtet aus der Arbeit des 1966 eingerichteten Redaktionsstabs der Gesellschaft beim Deutschen Bundestag, in deren Zentrum die Prüfung von Gesetzesentwürfen und eine weitere sprachliche Beratung steht, was die sprachliche Prüfung nicht juristischer Texte ebenso umfasst wie die Durchführung von Seminaren. In ihrem Beitrag zeigt Hallik, dass der Beitrag des Redaktionsstabs zur Sprachkultur darin besteht, Verwaltung und Politik zu unterstützen, die Regeln zur sprachlichen Richtigkeit korrekt anzuwenden sowie Brücken zwischen Fachsprachen und der Gemeinsprache zu bauen.
Wiesbaden und Hannover, im November 2017
Peter Schlobinski
Literatur
Besch, Werner (1967): Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert. Studien zur Erforschung der spätmittelalterlichen Schreibdialekte und zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. München.
Feilke, Helmuth (2016): »Einführung: Sprache – Kultur – Wissenschaft.« In: Jäger, Ludwig/Holly, Werner/Krapp, Peter/Weber, Samuel/Heekeren, Simone (Hgg.): Sprache – Kultur – Kommunikation. Language – Culture – Communication. Ein internationales Handbuch zu Linguistik als Kulturwissenschaft. A International Handbook of Linguistics as a Cultural Discipline. Berlin/Boston, S. 9–36.
Nübling, Damaris (2018): »Luca und Noah – Das phonologische Degendering von Jungennamen seit der Jahrtausendwende.« In: Nübling, Damaris/Hirschauer, Stefan (Hgg.): Namen und Geschlechter – Studien zum onymischen Un/doing Gender. Berlin/Boston, S. 239–269.
1 Frauke Petry in einem Interview in der Welt am Sonntag am 11.09.2016. Siehe http://www.spiegel.de/politik/deutschland/frauke-petry-und-das-wort-voelkisch-warum-die-afd-chefin-falsch-liegt-a-1111833.html. Es sei erwähnt, dass hier keine Attributkonstruktion vorliegt (›völkisches Volk‹), sondern eine Adjektivbildung, die attributiv oder auch prädikativ verwendet werden kann.so liegt zunächst formal eine regelhafte Wortbildung vor. Aber dies ist nicht der kritische Punkt, und niemand würde gar an dieser Stelle auf die Idee kommen, gegen die Adjektivbildung des Deutschen zu argumentieren. Der kritische Punkt ist vielmehr die intendierte Ablösung der Wortbedeutung aus den historisch vermittelten gesellschaftspolitischen Kontexten, in denen das Wort völkisch gerade nicht ohne den Bezug zur völkischen Ideologie der Nationalsozialisten gesehen werden kann und in denen es bis heute entsprechend konnotiert ist.
2 S. https://gfds.de/70-jahre-gesellschaft-fuer-deutsche-sprache/.
3 Der entsprechende Beitrag erscheint in Nübling/Hirschauer (2018).die Ausarbeitungen der gehaltenen Vorträge. Jochen A. Bär zeigt vor dem Hintergrund einer sprachhistorischen Perspektive, wie sich Kulturgeschichte im Wortschatz widerspiegelt und dass eine historisch-semantische Analyse vielfältige Quellen nutzende Daten und ihre Interpretation erfordert und somit eine sich allein auf digitale Daten stützende Analyse kritisch zu bewerten ist.