Das österreichische Deutsch

Robert Sedlaczek unter Mitarbeit von Melita Sedlaczek. Wissenschaftliche Betreuung: Univ.-Prof. Dr. Maria Hornung. Wien: Ueberreuter 2004. 496 Seiten. ISBN: 3-8000-7075-8. 34,95 €.

Dass es sich beim österreichischen und deutschen Deutsch nicht um zwei verschiedene Sprachen handelt, sondern um ein und dieselbe in zwei Ausprägungen (»Varietäten«) »versteht sich von selbst« – wie der Verfasser auf S. 8 feststellt. Trotzdem hat eine Reihe von Umständen dazu geführt, dass sich v. a. im Wortschatz bedeutende Unterschiede ergeben haben. Dies wurde schon im 18. Jahrhundert vom österreichischen Philologen Johann Siegmund Valentin Popowitsch beobachtet (S. 8 f.). In einer EU-Datenbank in Brüssel sind rund 4000 österreichische Ausdrücke gespeichert – nur 23 davon (durchwegs Bezeichnungen für Speisen) sind von der EU in den Verfassungsrang erhoben worden (S. 12 f.). Womit zwar nicht der Stellenwert der Sprache des Österreichers umrissen wird, aber es ist die unmittelbare Folge der Tatsache, dass das normative Zentrum des Deutschen in Mannheim liegt, woran auch das bewährte Österreichische Wörterbuch bisher nicht viel ändern konnte.

Das Buch ist sehr ansprechend gestaltet, auch für Laien gut verständlich, also populär­wissenschaftlich im besten Sinn. Durch zahlreiche Anekdoten, Abbildungen und Original­zitate dringt man in die Besonderheiten des österreichischen sprachlichen Wesens ein. Wer sich für unsere Sprache interessiert, kommt beim Schmökern durchaus auf seine Rechnung und wird das Buch nicht so schnell aus der Hand legen. Im Mittelpunkt steht freilich der Wortschatz, doch auch die anderen Bereiche (Redewendungen, Aussprache, grammatikalische Besonderheiten, Abweichungen in der Rechtschreibung) finden ihre Berücksichtigung. Die Betrachtungsweise ist grenzüberschreitend, Gemeinsamkeiten mit anderen Regionen (v. a. mit Bayern1) und Unterschiede innerhalb Österreichs werden entsprechend aufgezeigt. Gestaltung des Stichwortes: Austriazismus und anschließend die binnen-/norddeutschen Entsprechungen, dann ein umfänglicher Kommentar, meist mit etymologischen und/oder dialektologischen sowie sprachgeschichtlichen und sonstigen Angaben (s. o.), zum Abschluss die wissenschaftliche Literatur. Das Buch selbst ist nicht als Wörterbuch im engeren Sinn, sehr wohl aber als Nachschlagewerk (oder Handbuch) zu betrachten. Ein umfangreiches Register erleichtert das Auffinden der einzelnen Äquivalente zu den österreichischen Ausdrucksweisen. Die Anzahl der behandelten Wörter und sonstigen sprachlichen Eigenheiten liegt weit über 1000.2

Bekanntlich unterscheidet sich das österreichische Deutsch vom Bundesdeutschen sowohl durch Geringfügigkeiten (etwa verschiedenes Geschlecht, z. B. das/der Gehalt [›Einkommen‹], verschiedene Wortbildung, z. B. Wissenschafter/Wissenschaftler, oder beides, z. B. der Zeck/die Zecke) als auch durch größere Abweichungen (wie Jänner/Januar, Vorrang/Vorfahrt, Lungenbraten/Lendenbraten) bis hin zu ganz verschiedenen Wörtern – der häufigste Fall (z. B. Leintuch/Laken, Kren/Meerrettich).

Die meisten Wörter, aber bei weitem nicht alle (etwa Berliner Pfannkuchen im Süden oder Powidl im Norden), werden allgemein verstanden oder sind als Nebenformen üblich (wie Pilz neben Schwammerl in Österreich oder Gespritzter neben Schorle in Deutschland). Dazu kommen auch einige grammatikalische Erscheinungen, wie umgangs­sprachlich –ert (z. B. deppert, patschert), umgekehrt z. B. das Genitiv-s in Wendungen wie Mutters Hut (beides trifft auch auf Bayern zu) und Aussprachegewohnheiten, zum Beispiel haben Erde/Geburt in Österreich (und Bayern) Kurzvokal3, laut Duden Langvokal. Weiters gibt es auch einige Wörter, die nur in Österreich gebräuchlich sind und gar kein »deutsches« Pendant haben (ich habe 17 gezählt, etwa Lurch, mittelhochdeutsch luoch, etwa ›Staubballen‹). Manche dieser Wörter sind zu allgemeindeutschen Fachausdrücken geworden, wie Strudel und Maut (s. u.).

Die Umgangssprachen im deutschen Sprachraum ändern sich derzeit massiv. In Österreich ist vor allem das Eindringen norddeutscher Sprachgewohnheiten zu beobachten, wobei es sich jedoch nicht um eine Einbahnstraße handelt. Treffender sei das Bild einer Autobahn, die in beiden Richtungen stark befahren ist: vom Norden in den Süden und vom Süden in den Norden. Allerdings ist der Verkehr von Norden nach Süden weit stärker. Beispiele für Wörter, die sich zur Zeit von Norden nach Süden ausbreiten, sind u. a. lecker ›gut schmeckend, geschmackig‹ (S. 344), Klamotten ›Gewand‹ (S. 135), mal statt ›einmal‹ (S. 88), verkürzte Artikel nach dem Muster von ’ne Katze usw., andererseits wandern zur Zeit von Süden nach Norden unsere vertrauten eh (S. 84), halt (S. 157 f.), servus (S. 361), Knödel (S. 202), Karotte (S. 189 f.), es sind bereits gewandert Strudel (S. 386 – es gibt dafür kein eigenes binnen- oder norddeutsches Wort), Maut (S. 244 f.), Traktor (S. 397) usw.

Auch in Deutschland sagt man umgangssprachlich eher Marmelade und nicht Konfitüre (S. 238 f.). Dennoch kam es zu der berühmten Schlagzeile in der Kronenzeitung vom 17. 10. 2003 »EU verbietet uns ›Marmelade‹!« – weil nach einer EU-Richtlinie Marmelade und Konfitüre verschiedene Produkte sind, was in Österreich offensichtlich nicht allgemein bekannt war.

Im Kontakt zwischen Norddeutschen und Süddeutschen bzw. Österreichern sind so manche hybriden Bildungen entstanden wie da kann ich nichts dafür, eine Verschränkung aus dafür kann ich nichts und da kann ich nichts für (S. 75), oder hast du die Kamera mit dabei aus hast du die Kamera mit und hast du die Kamera dabei.

Ursprünglich vermeidet der Norden bei Personennamen den Artikel, also eher Ruth als die Ruth, Meier statt der Meier usw., auch bei Verwandtschaftsbezeichnungen, etwa Vati/Papa statt der Vati/Papa, doch der Artikelgebrauch nimmt jetzt zu (S. 289), wobei man im Süden überhaupt »Mut zum Artikel« haben sollte (S. 444), schließlich sagt man bei uns (wie auch in Bayern) ich habe einen Hunger. Im Norden – beobachtet der Verfasser – findet zur Zeit ein Präteritumschwund statt, die Sprachgepflogenheiten des Südens erreichen den Norden mit einem halben Jahrtausend Verspätung. Das »modernere« südliche Tempussystem setzt sich immer mehr durch, die Erzählzeit ist immer öfter das Perfekt und nicht das Präteritum (S. 439 f.). Ebenso sei das »doppelte Perfekt« (ich habe es vergessen gehabt statt ich hatte es vergessen) typisch für unseren Sprachgebrauch und für den Süden (S. 286 ff., 440 f.). Dieses ist keineswegs nur der Ersatz für das Plusquamperfekt (ich hatte es vergessen), sondern kann auch eine Nebenbedeutung haben, etwa im Sinne von ›hat man etwas für immer vergessen und sich später daran wieder erinnert?‹, daher kommt diese Bedeutung meist bei jenen Zeitwörtern vor, die ein Geschehen in seiner Dauer, in seinem unvollendeten Verlauf ausdrücken (vergessen, sich gewöhnen, (ein)schlafen, blühen), ein weiteres Beispiel: Wir hatten bereits gegessen, als er eintrat gegenüber Wir hatten bereits gegessen gehabt, als er eintrat. Der erste Satz drückt nur die Vorzeitigkeit aus, der zweite, dass das Essen länger gedauert hat, vollständig abgeschlossen ist und dass der Mann vielleicht verspätet eintrifft. Nach dem Grammatik-Duden wäre er (der 2. Satz) fehlerhaftes Deutsch und es würde vorgeschlagen werden zu sagen: Wir hatten schon längst fertig gegessen, als er endlich eintrat.4 Doch dieser Typus ist literarisch, der Verfasser bringt Belege von Robert Musil und Thomas Bernhard. Es gibt also streng genommen mehr als sechs Zeiten, auch wenn in den Schulgrammatiken nur sechs erwähnt werden: Man müsse von mindestens acht Zeiten ausgehen.5

Insgesamt muss man feststellen, dass das österreichische Deutsch (wie das gesamte südliche Deutsch) von Norden her bedrängt wird, dass auch viele Österreicher/-innen in Rundfunk, Fernsehen und Presse dazu neigen, »norddeutsche« Aus­drucksweisen zu übernehmen – nicht ausschließlich, aber doch. Daher wird man dem Verfasser für seinen Leitfaden »Wie schreibt man/spricht man gutes österreichisches Deutsch?« (S. 439–452) dankbar sein, der sowohl für die Hoch- bzw. Schriftsprache als auch für die Umgangssprache gute Ratschläge gibt und das nötige Hintergrundwissen vermittelt.
Es ist dem Buch zu wünschen, dass es (nicht nur in Österreich) eine weite Verbreitung findet und dazu beiträgt, die Vielfältigkeit der deutschen Sprache zu stärken, zu der gerade Österreich sehr viel beigetragen hat, sowie die Österreicher dazu zu motivieren, diesen Sprachschatz auch bewusst anzuwenden!


1 Schon in der Einleitung werden die vielen Übereinstimmungen zwischen Bayern und Österreich angesprochen und der Verfasser stellt ausdrücklich fest, dass das rot-weiß-rote Fähnlein, das den österreichischen Stichwörtern vorangestellt wird, nicht immer bedeutet, dass diese nur für Österreich gelten, sehr oft sind sie »bairisch-österreichisch«, aber eben nicht immer – »und dies mögen uns die Bayern … verzeihen«.

2 Probeseiten im Internet unter: http://www.das-oesterreichische-deutsch.at

3 Solche Fälle werden im Österreichischen Wörterbuch durch den Hinweis »gehoben Erde/Geburt (also mit Langvokal)« ausgewiesen, wor­aus der Benützer den Schluss ziehen kann, dass die Angaben nach Duden die korrekten, gehobenen sind. Bei Wörtern wie Bad, Tag ist es genau umgekehrt, hier gilt auch nach Duden der Langvokal, umgangssprachlich werden diese Wörter im deutschen Norden aber kurz gesprochen.

4Daher erinnert mich diese Erscheinung an den slawischen Aspekt.

5 Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass Robert Sedlaczek hier Neues und weniger Bekanntes bringt. Darüber hinaus gibt es noch weitere Formen, die in den üblichen Grammatiken nicht aufscheinen (z. B. ich tue arbeiten oder in Kärnten das kommt eingepackt usw.).

Heinz Dieter Pohl