Neuer Wortschatz

Dieter Herberg, Michael Kinne, Doris Steffens unter Mitarbeit von Elke Tellenbach, Doris Al-Wadi. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2004. XXXVII, 393 Seiten.
ISBN 978-3-11-017750-3 (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache, 11). 59,95 €.

Diese Veröffentlichung zieht die Summe aus dem 1996 aufgenommenen Projekt des Instituts für Deutsche Sprache (Mannheim), neue Wörter (»Neulexeme«) und Neubedeutungen zu erfassen und zu dokumentieren. Das nun vorliegende Wörterbuch verzeichnet rund 700 dieser Neologismen, und es seien zur Veranschaulichung gleich einige, in lockerer Auswahl, genannt: abgezockt, aufbrezeln, Bezahlfernsehen, downloaden, E-Mail, Euroland, Gentomate, Handy, Jobmaschine, Political Correctness, probiotisch, Realityshow, Rinderwahnsinn, Servicepoint, Täterakte, Technokultur, Tunnelblick, Webmaster, Wossi, WWW.

Die Autoren gehen in der Einleitung kurz auf die Tradition der Beschreibung von Neologismen im Deutschen ein und bringen ihre diesbezügliche Definition (S. XII): »Ein Neologismus ist eine lexikalische Einheit bzw. eine Bedeutung, die in einem bestimmten Abschnitt der Sprachentwicklung in einer Kommunikationsgemeinschaft aufkommt, sich ausbreitet, als sprachliche Norm allgemein akzeptiert und in diesem Entwicklungsabschnitt von der Mehrheit der Sprachbenutzer über eine gewisse Zeit hin als neu empfunden wird.« Die berücksichtigten Neologismen mussten ferner folgenden Kriterien entsprechen (S. XIII): Sie mussten neu für die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts sein, der Allgemeinsprache angehören und dem deutschen Sprachgebrauch entsprechen.

Die Sprachbelege wurden folgendermaßen gewonnen: Als Primärquellen wurden »massenmediale Texte« ausgewertet, vor allem Zeitungstexte, und Texte aus dem beim Institut für Deutsche Sprache verfügbaren elektronischen Korpus herangezogen. Als Sekundärquellen wurden spezielle Wörterbücher und sprachbezogene wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Arbeiten berücksichtigt. Ausführlich (vielleicht zu ausführlich) sind die Hinweise zur Benutzung des Wörterbuchs. Am Ende des Bandes werden die Quellen und die Literatur zitiert. Der »Ausblick« (S. XVIII) kündigt laufende Ergänzungen an sowie »für jeweils einen Zehnjahreszeitraum die Publikation kommentierter Wortlisten mit aktuellen Neologismen«.

Zum Lexikonteil: Die einzelnen Stichwörter werden, gut gegliedert, ausführlich dargeboten. Bedeutung und Verwendung werden beschrieben, Belege genannt und grammatische, pragmatische sowie sprachkritische Angaben gemacht. Auch werden, sofern vorhanden, Erstbuchungen in Wörterbüchern zur Gegenwartssprache erwähnt. Positiv ist auch, dass die Stichwortartikel einheitlich ausgearbeitet sind, sodass eine gute Vergleichbarkeit besteht. Jedes Stichwort erstreckt sich auf etwa eine halbe Seite. Es werden zudem unter »Wortbildungsproduktivität« Zusammensetzungen und Ableitungen genannt, weshalb die Anzahl der Stichwörter höher ist als die genannte niedrige Zahl (700 Einträge). So finden sich unter E-Mail etwa E-Mail-Absender, Massen-E-Mail, Werbe-E-Mail und unter emailen die Personenbezeichnung E-Mailer; unter Reality-TV finden sich u. a. Ereignisfernsehen, Realitätsfernsehen. Da es hier also Worteinträge gibt, die im Alphabet an unterschiedlicher Stelle stehen, wäre ein Gesamtindex (wie ihn auch andere Bücher aus dem Institut für Deutsche Sprache bringen, etwa das Lexikon Brisante Wörter, 1989) hilfreich.

Mitunter werden »Lesarten« unterschieden, etwa bei Electronic Mail/E-Mail oder Ranking (die Ausdrücke kommen als grammatisch sächlich und weiblich vor bzw. sind in der Bedeutung nuanciert), wobei dann das Stichwort mehr als eine Druckseite einnehmen kann. Mitunter wird dann des Guten zu viel getan, etwa wenn nach dem Stichwort Web eigenständige Einträge zu den Zusammensetzungen Webadresse, Webcam, Webdesign, Webmaster, Webseite, Webserver, Website und Webzine in der sonstigen ausführlichen Weise abgedruckt werden (ähnlich bei Internet-).

Einige Beispiele für neu aufgekommene Wörter, »Neulexeme«: Abschübling, abspacen, Alarmismus, Alles-inklusive-Reise, all-inclusive, Allzeithoch/Allzeittief, Anchor, anklicken (mit der Maus), auschillen – und für Wörter, die einer neuen Bedeutung unterliegen, »Neubedeutungen«: abhängen (›sich, oft zusammen mit anderen, passiv entspannen und so die Zeit verbringen‹), abziehen (›jemandem etwas gewaltsam vom Körper reißen‹), Adresse (›E-Mail-, Mailadresse‹), anklopfen (beim Telefonieren), Banner (Werbeelement im Internet). – Bei Abschübling stimmt indessen die Zuordnung zu den 90er Jahren nicht, denn GfdS-Belege führen in die 80er zurück (siehe Der Sprachdienst, 1987, S. 5; das amtsdeutsche Wort kam spätestens 1986 auf). Internet ist nach GfdS-Belegen schon seit 1990 bekannt (auf S. 175 werden Belege nach 1993 zitiert).

Ich will zwar nicht die beliebte Rechnung aufmachen, d. h. nicht näher nachprüfen, welche Wörter noch hätten aufgenommen werden können, doch schon beim Durchblättern – und gerade der mit der EDV und dem Internet verbundene Wortschatz sticht ja ins Auge – fällt auf, dass die seit einigen Jahren geläufigen Ausdrücke beamen, Beamer, Cookie/Cooky, Domain oder Spam (Spammail), die den oben genannten Kriterien entsprechen, fehlen. Auch Stalker, Stalking war in den 90er Jahren schon im Deutschen geläufig. Hätte zudem nicht auch abwickeln, Abwicklung (seit der deutschen Vereinigung in betrüblichem Sinne in Umlauf) hier ein Stichwort verdient, denn die »Neubedeutung«, die ›auflösen‹ und ›entlassen‹ einschließt, scheint evident? Merkwürdig ist auch, dass die eher randständige Prägung Neufünfland einen eigenen Stichwortartikel erhalten hat, nicht aber die – für Neufünfland als Voraussetzung fungierende – Fügung die neuen Länder/die neuen Bundesländer, seit 1990 bekannt und für die neunziger Jahre – sowie heute – sehr charakteristisch (siehe Der Sprachdienst 1991, S. 34).

Verzeichnet werden daneben auch »Neuphraseologismen« wie den Ball flach halten, fit wie ein Turnschuh, in der Pipeline oder in trockenen Tüchern. Vermisst habe ich hier z. B. die Chemie stimmt (›es herrscht gutes Einvernehmen, es besteht ein gutes persönliches Verhältnis‹) und das jugendsprachliche alles Banane.

Noch eine generelle Bemerkung, auch zum Interessentenkreis dieses Bandes. Die Einleitung spricht etwa davon, dass die »Begriffsentwicklung und die Wortgeschichte von ›Neologismus‹« leider nicht nachgezeichnet werden könnten (S. XI); auch wird – nicht sehr benutzerfreundlich – hinsichtlich der Stichwortauswahl auf eine gesonderte wissenschaftliche Abhandlung hingewiesen (S. XIII, »Herberg 2000 a«), und es gibt andere Anzeichen dafür, dass es sich bei dem vorliegenden Unternehmen nicht um ein »normales« und auch für breitere sprachinteressierte Kreise in Frage kommendes Wörterbuch handelt, sondern eher um einen Beitrag zur »wissenschaftlichen Lexikographie« (vgl. S. V). Titel und Untertitel erheben ja allerdings nicht den Anspruch auf ein regelrechtes ausführliches Wörterbuch.

Auch in die Kartei zur Gegenwartssprache der GfdS und ihre Zeitschrift Der Sprachdienst hatten die Autoren Einblick genommen, und so darf hier wohl eine Anmerkung in eigener Sache gemacht und daran erinnert werden, dass die Wortarbeit der GfdS in manchen Fällen ganz aktuell war, insofern als im Falle von Besserwessi unverzüglich reagiert wurde: Dieser Ausdruck wurde von ihr 1991 zum »Wort des Jahres« erklärt, und ältere Belege als aus jenem Jahr bietet auch der vorliegende Neologismenband nicht. Ähnliches gilt für Solidaritätszuschlag 1991, gaucken, Lichterkette und Outing 1992, Dino und Ostalgie (Ost + Nostalgie) 1993, Osterweiterung 1994, Datenautobahn, Eurogeld und virtuelle Realität 1995, Globalisierung, Homepage und Inlineskating 1996 (nicht 2000, s. S. 173), Elchtest und Reformstau 1997, Event 1998, SMS 2000 und simsen 2001. Diese Ausdrücke wurden nicht alle zum »Wort des Jahres« gewählt, sie kamen aber zumindest – im Jahr des Erstbelegs oder nur wenig später – in die engere Auswahl, was im vorliegenden Lexikon bei den Einzelartikeln in der Rubrik »Sprachreflexives« auch erwähnt wird.

Gerhard Müller, Wiesbaden