Ausgabe: Der Sprachdienst 4/2014

Gänsehautentzündung

Wie schon einige große Turniere vor ihr hat die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 kreative Neologismen hervorgebracht. Wir erinnern uns an die bis dato bei uns unbekannte Vuvuzela von 2010 (auf Platz 8 der Wörter des Jahres), die Fanmeile war 2006 Wort des Jahres, die Klinsmänner belegten im gleichen Jahr den 9. Rang, bei der EM 2004 tat sich Rehakles hervor (Otto Rehagel als Trainer der siegreichen Griechen auf Platz 10) und die Fans lobten 2002 den damaligen deutschen Nationaltrainer mit ihrem Gesang »Es gibt nur ein’ Rudi Völler« (Platz 10) – und nun dies. Er habe eine »Gänsehautentzündung« bekommen, kommentierte der ehemalige Nationalspieler und ARD-Fußballexperte bei der WM 2014 Mehmet Scholl das Achtelfinalspiel des Gastgebers Brasilien gegen Chile.

Der Zuschauer mag an dieser Stelle gestutzt haben: Gänsehautentzündung? Ist das ein anerkanntes Leiden? Gänsehaut, ja, die hat jeder mal. Verschiedene Entzündungen sicher auch. Nur eben beides nicht in Kombination. Auf Twitter verbreitete sich das Wort schnell, und man spekulierte bald nicht nur über die Auswirkungen einer Gänsehautentzündung, sondern auch über die Symptome von Leistungszerrung und Zechprellung. Eine detaillierte Beschreibung der Krankheitsbilder steht noch aus.

Wir können also zunächst nur Vermutungen darüber anstellen, worunter Mehmet Scholl nach dem genannten Spiel litt. Eine Gänsehaut, so die gängigen allgemeinen Wörterbücher, ist eine »durch Kältereiz oder durch psychische Faktoren (Schreck, Angst) bewirkte Veränderung des Aussehens der Haut, auf der die Haarbälge hervortreten und die Haare sich aufrichten«. Ihren umgangssprachlichen Namen erhielt die Gänsehaut, man wird es sich denken, durch die Ähnlichkeit mit der Haut einer gerupften Gans; in Österreich ist sie als Hühnerhaut bekannt. Der fachsprachliche Ausdruck lautet Dermatospasmus, doch auch spezielle medizinische Wörterbücher verzeichnen keine derartige Entzündung. Eine Entzündung entsteht dagegen als Reaktion des Körpers oder einer bestimmten Körperstelle auf einen schädigenden Reiz und ist zum Beispiel durch eine krankhafte Rötung oder eine schmerzhafte Schwellung zu erkennen. Eine Gänsehautentzündung hat sich Mehmet Scholl also womöglich zugezogen, indem er während des für ihn offenkundig nervenaufreibenden Spiels fortwährend eine Gänsehaut hatte (vielleicht spielten hier auch Schreck oder Angst eine Rolle); diese dauerhafte Reizung – man stellt sie sich unangenehm vor – führte dann schließlich zu einer Entzündung. So ließe sich das von ihm gebildete Wort wörtlich deuten. Dass es sich tatsächlich um eine Entzündung handelt, lässt sich aber, nüchtern betrachtet, wohl ausschließen. Scholl wollte vermutlich zum Ausdruck bringen, dass er während des Spiels derart überschwänglichen Gefühlen ausgesetzt war, dass eine banale Gänsehaut ihm zur Beschreibung seines Zustandes nicht mehr genügte. Oder handelt es sich nicht nur sprachlich, sondern auch körperlich um eine Mischung aus Gänsehaut und einer von vielen möglichen Entzündungen? Da böten sich an: Bindehautentzündung, Hirnhautentzündung oder Magenschleimhautentzündung, wahlweise auch Blasenentzündung, Lungenentzündung, Blinddarmentzündung, Mandelentzündung, Mittelohrentzündung oder Zahnfleischentzündung. Wünschen tun wir es ihm nicht.

Mehmet Scholl ist laut Erkenntnissen der Presse jedoch nicht der Erfinder des Wortes: Bereits vor zwei Jahren hat der Ballermann-Barde Mickie Krause es in seinem Lied »Tinnitus« verwendet, in dem es heißt: »Ich hab ’nen Tinnitus im Auge, ich seh überall nur Pfeifen […], ich krieg ’ne Gänsehautentzündung, kann es einfach nicht begreifen.« Ob Scholl das Wort also schon vorher kannte und es nun wieder aufgegriffen hat, soll nicht weiter hinterfragt werden. Er ist auf jeden Fall derjenige, dem sich die derzeitige Verbreitung des Wortes verdankt, und besonders in Sportlerkreisen scheint es beliebt zu sein: Nach seinem Sieg beim Ironman in Frankfurt am Main gab Triathlet Sebastian Kienle erst kürzlich Auskunft, er habe eine Gänsehautentzündung und müsse nun zunächst eine Weile in der »Eistonne« verbringen – und verwendet damit ein weiteres »geflügeltes Wort« der WM: Im teils (sub-)tropischen Klima Brasiliens hilft das (Fuß-)Bad in einer mit kaltem oder sogar Eiswasser gefüllten Tonne den Fußballspielern nach dem Spiel bei der Regeneration.

Interessant ist übrigens, dass die Autokorrektur des Textprogramms, mit dem dieser Text verfasst wird, zwar unbekannte bzw. fehlerhafte Wörter markiert – und dies teils überkritisch –, Gänsehautentzündung jedoch anstandslos akzeptiert. Wenn damit nicht ein erster Schritt zur Aufnahme in den Allgemeinwortschatz getan ist …

Frauke Rüdebusch