Lebensweisheiten im Obergeschoss
Getreu dem bekannten Satz von Kurt Tucholsky »Man sollte mal heimlich mitstenographieren, was die Leute so reden« zückte die Verfasserin dieser Zeilen unlängst in einem Buchladen einen Notizzettel, um sich einen Satz aus einem Verkaufsgespräch aufzuschreiben. Der Satz wurde von einer Angestellten des Buchladens einer Kundin gegenüber geäußert, und er lautete wie folgt: »Die Lebensweisheiten sind normalerweise im Obergeschoss.« Die Kundin nahm diesen Satz als hinreichende Information und begab sich vermutlich ins Obergeschoss. Ob ihr die geradezu poetische Kraft dieses Satzes bewusst war, bleibt leider unbekannt. In der geschilderten Situation ist dieser Satz vielleicht tatsächlich nur eine Information, und es ist nicht schwer, ihn so zu verstehen, wie er gemeint war. Natürlich ging es um Bücher zum Thema Lebensweisheiten, aber das muss bei einem Gespräch, das in einer Buchhandlung stattfindet, nun nicht unbedingt dazugesagt werden. Nimmt man den Satz aber einmal aus dem Zusammenhang und der Situation heraus, was wäre er für eine erfreuliche Aussage über eine hübsch übersichtliche Welt. Wer hätte nicht schon einmal eine Lebensweisheit gebraucht (und zwar eine richtige, nicht nur das, was irgendwelche selbsternannten Weisen niederschreiben und Verlage dann zwischen Buchdeckel zwängen)?
Leider sind solche Lebensweisheiten in aller Regel nicht so einfach aufzutreiben. Da wäre es dann schön, wenn der Satz »Die Lebensweisheiten sind normalerweise im Obergeschoss« stimmen würde. Man muss sie nicht lange suchen, die Lebensweisheiten, sie lagern schön beieinander unter dem Dach. Ein klein wenig beunruhigend wirkt hier bestenfalls der Zusatz normalerweise, der suggeriert, dass in einem anderen als dem Normalfall im Obergeschoss keinerlei Lebensweisheiten zu finden wären. Stimmig hinwiederum ist die Vorstellung, dass sich die Lebensweisheiten im Ober- und nicht im Untergeschoss befinden sollen. Denn Obergeschoss – wenngleich ein etwas prosaisches Wort – transportiert dennoch, dass sich die Lebensweisheiten in einer gewissen Erhabenheit und vielleicht sogar Himmelsnähe »über den Dingen« aufhalten. Das ist ein mit Sicherheit angemessenerer Ort als ein Untergeschoss, bei dem Assoziationen an einen miefigen und feuchten Keller wach werden (damit soll ausdrücklich nicht gesagt werden, dass das Untergeschoss der erwähnten Buchhandlung ein miefiger Keller sei, es handelt sich um Assoziationen aufgrund des Wortes, nicht des Ortes). In einem Untergeschoss kann man Kartoffeln lagern, die Lebensweisheiten gehören eindeutig ins Obergeschoss. Das haben sie in dieser Buchhandlung schon ganz richtig erkannt. Denn nur wenn die Bücher über Lebensweisheiten im Obergeschoss stehen, kann ein so wundervoller Satz wie der hier wiedergegebene ein Verkaufsgespräch derart aus dem Alltag herausheben. Und da lohnt sich dann auch das Mitschreiben dessen, was die Leute so reden, in unseren Tagen nicht weniger als zu Tucholskys Zeiten.
Nicola Frank