Lizenz zum Du? Oder: Wollen wir uns alle duzen?

Darf der Dieter mich duzen, auch wenn er mich gar nicht kennt? Hierzu muss man wohl etwas ausholen. Zum Beispiel mit einem Bild und einer Situation, die jeder kennt: Man steht als Besucher auf unbekanntem Terrain vor zwei verschlossenen Räumen und weiß nicht, welcher von beiden nun betreten werden soll. Zum Glück gibt es meist eine Vorlaufphase. Da ist in der Regel ein Flur, der Zeit und Raum lässt, um nachzudenken, abzuwägen, unter Umständen auch umzukehren. Da ist die Tür als Grenze des Handelns, in ihr vielleicht sogar ein Schlüsselloch, um die Lage auszuspähen. Und schließlich gibt es da natürlich noch den korrekten Verhaltenskodex des Anklopfens.

Wenn es in unvorhergesehenen Situationen aber gilt, im Deutschen in der Anrede zwischen dem Sie und dem Du zu wählen, um ein (eher) unbekanntes Gegenüber anzusprechen oder im Beisein anderer Menschen diesen vorzustellen, dann fehlen nicht selten all diese Vorlaufphasen, dann verschwimmt die Schwelle. Hier gilt’s gerade, innerhalb weniger Augenblicke eine Entscheidung zu fällen, um entweder mit der Tür ins Haus zu fallen oder anzuklopfen – auf die Gefahr hin, schon unbemerkt hereingebeten worden zu sein.

Unter Freunden ist die Sache einfach, unter Fremden zuweilen vertrackt. Die alte Regel, erst einmal per Sie auf Distanz zu bleiben, um dann, kurz oder womöglich lebenslang, auf das Angebot zu warten, sich per Du anzunähern, versagt in genau den Situationen, da das Gegenüber ein erstes Siezen als höchst unangenehm empfindet. Sie – klingt das nicht irgendwie nach alter Mode, nach einem gewissen Alter, also nach verbrauchter Jugend? Und was macht man, wenn plötzlich ein Du einladend auf den Tisch gelegt wird, ein Hinlangen ungewollt, ein Ablehnen aber unhöflich ist? Was schließlich anfangen mit all diesen seltsamen Mischformen wie »Ackermann, hol’ mal das Klassenbuch!« oder »Margot, können Sie mir helfen?«

Dieter Bohlen hat sich dieser kniffeligen Fragen in der ihm eigenen, also nicht eben hintergründigen Art entzogen. So beanspruchte er, im April 2005 in einen juristischen Anredekonflikt mit einem Polizisten verwickelt, ein Duz-Recht für sich a priori: »Ich duze jeden.« Die Richter vom Hamburger Landgericht verstanden das, setzten sich über frühere Rechtsprechungen mit teils hohen Geldstrafen hinweg und sprachen den Dieter im Februar 2006 vom Vorwurf der Beleidigung frei. Die Bild-Zeitung verstand das wohl auch und holte im darauffolgenden Juli, berauscht vom deutschen Fußballsommerhoch, gleich zur kollektiven Umarmung aus: »Wollen wir uns alle duzen?« Die Frage steht also im Raum, draußen vor der Tür: Wollen wir die direkte Du-Demokratie ohne Sie und aber?

Noch bis vor hundert Jahren wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, diese Frage überhaupt zu stellen. Bis ins 18., auch 19. Jahrhundert wurde das gemeine Volk geduzt oder geerzt (»Hat Er schon seine Erbsen gegessen, Woyzeck?«, aus: Büchner, Woyzeck), während Adel und Klerus ein Ihr(o) erwarteten (»Was spricht man vom Türkenzug, Ihro Fürstliche Gnaden?«, aus: Goethe, Götz von Berlichingen) oder ein Eure (»Ich fragte Eure Durchlaucht nicht ohne Absicht«, aus: Schiller, Der Geisterseher) für sich reklamierten. Zu dieser Zeit war die Sie-Form selbst unter Familienmitgliedern nicht ungewöhnlich und ist es in Teilen der Welt bis heute nicht (z. B. in Mexiko). Zum Problem wurde all dies erst, als mit Beginn des 19. Jahrhunderts die soziale Ungleichheit nicht einfach nur hingenommen, sondern – eben auch in der Sprache – zunehmend in Frage gestellt wurde (vgl. Werner Besch, Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern, Göttingen 1998).

Was wäre nun heutzutage die Konsequenz des Endes der Sie-Anrede? Sicher, die Amtsrichter müssten sich nimmermehr mit lästigen Klagen wegen derartiger, ob nun empfundener oder tatsächlicher (Beamten-)Beleidigungen herumschlagen, Lehrerinnen und Schüler, Chefs und Angestellte, Fremde und Freunde würden ihre Beziehungsgeflechte, Rang- und Altersstufen nicht länger bereits in der Anrede artikulieren, man spräche Du zum Richter und zum Polizisten, Du zu Herrn Schröder und Frau Merkel, Du zu Hinz und Du zu Kunz, Du selbst zum Papst: Du, Joseph mithin statt Eure Heiligkeit. Wir wären also alle gleich. Im Tod und im Du.

Aber wir sind es, natürlich, nicht. Mag sich in US-Betrieben – auch aufgrund aufgeweichter Differenzierungsmöglichkeiten im Englischen – jeder duzen, mag ein Teil der Psychologie die heilsamen Effekte dessen betonen: Die Hierarchien bleiben und drücken sich eben auf anderen Ebenen aus, auch in einigen bekannten Geschäftsketten, wo kreuz und quer geduzt wird. Dann doch lieber ein offenes Visier, auch in der Anrede. Sie = Distanz. Du = Nähe: Die Formel hilft nicht immer, hilfreich ist sie schon.

In seiner Schrift Ich und Du schreibt Martin Buber, der große deutsch-jüdische Religionsphilosoph und Erneuerer der Philosophie des Dialogs: »Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. […] Liebe ist die Verantwortung eines Ichs für ein Du.« Auch wenn Buber das anders, nämlich auf einer höheren menschlichen Ebene, meinte: Auf Dieter Bohlen und mich trifft das jedenfalls nicht zu. Weder »lieben« wir uns noch fühlen wir uns füreinander »verantwortlich«, zumal wir uns, wie bereits erwähnt, auch gar nicht »unmittelbar« kennen. Und um damit endlich die Eingangsfrage zu beantworten: Ja, der Dieter dürfte mich duzen, uns alle, höchstrichterlich lizensiert, erbarmungslos. Doch mögen Sie, Herr Bohlen, sich auch fürderhin durchs Leben duzen – bei Ihnen bleib’ ich doch beim Sie. Vorerst und auch bis auf Weiteres.

Arndt Kremer