Ausgabe: Muttersprache 2/2020

Muttersprache 2/2020

Lucia Assenzi
»derhalben ich dan nit so woll stehendt … woll habendt bin.« Die Korrekturen in der Handschrift der Erzehlungen aus den mittlern Zeiten (1624) als Quelle zur Erforschung der Spracharbeit der Fruchtbringenden Gesellschaft

Die theoretischen Aussagen zu den sprachrenovierenden Bestrebungen der Fruchtbringenden Gesellschaft sind in der bisher erschienenen Literatur erschöpfend behandelt worden. Aus der Literatur wird ersichtlich, dass weder die Beseitigung von Fremdwörtern noch die Verschaffung einer grammatikalisch einheitlichen Sprache im Mittelpunkt der Spracharbeit dieser barocken Gesellschaft standen, sondern die Verbesserung der stilistischen Qualität der deutschen Sprache, was seinerseits zur Aufwertung der deutschen Literatur, noch mehr aber der deutschen Kultur im europäischen Kontext hätte beitragen sollen. Anhand der Untersuchung der Korrekturen in der Handschrift der Erzehlungen aus den mittlern Zeiten (1624), der ersten deutschen Übersetzung des italienischen Novellino (1572), wird im vorliegenden Beitrag die konkrete Umsetzung der theoretischen Aussagen zur stilistischen Verbesserung der deutschen Sprache in der sprachrenovierendenPraxis der Fruchtbringenden Gesellschaft veranschaulicht.

Schlagwörter: Fruchtbringende Gesellschaft, barocke Sprachreflexion, Geschichte der Sprachreflexion, Übersetzung, deutsche Sprachgeschichte, historische Graphematik, historische Morphologie, historische Syntax

The academic literature concerning the Fruit-bearing Society (Fruchtbringende Gesellschaft) gives a comprehensive overview of the theoretical assumptions on which the language cultivation program of this society was based. The literature has made it clear that the real focus of the Fruit-bearing Society was neither the complete elimination of foreign words from the German language, nor the creation of a completely regular grammar. Its aim was rather to enhance the stylistic quality of German, not only to improve the German literature, but also, and most importantly, to make German culture competitive on a European level. The present paper discusses some interesting corrections that appear in the manuscript of the Erzehlungen aus den mittlern Zeiten (1624), the first German translation of the Italian collection of short stories Novellino (1572), thus showing how theoretical assumptions regarding the improvement of the stylistic quality of the German language were implemented in the practice of language cultivation.

Keywords: Fruit-bearing Society, 17th century language reflection, history of language reflection, translation, history of German language, historical graphematics, historical morphology, historical syntax

Xiaogang Wu, Qili Wang und Heng Zhu
Die Funktionsweise des Satzproduktionssystems im Deutschen und Chinesischen. Eine Eyetracking-Studie

Zur Beschreibung der Funktionsweise des Satzproduktionssystems wird in der Psycholinguistik generell zwischen der linearen und der strukturellen Inkrementalitätshypothese unterschieden. Die vorliegende Studie hatte zum Ziel, die beiden Hypothesen im Kontext der deutschen und chinesischen Satzproduktion zu prüfen. Dafür wurde ein Eyetracking-Experiment durchgeführt, in dem deutsche und chinesische Muttersprachler abgebildete transitive Ereignisse in ihren Muttersprachen
beschrieben. Die visuelle Zugänglichkeit der ereignisbildenden Referenten mithilfe des visuellen Priming-Paradigmas wurde dabei systematisch manipuliert. Es wurde gezeigt, dass die Versuchspersonen kaum (im Chinesischen) oder nur eingeschränkt (im Deutschen) von der visuellen Manipulation beeinflusst wurden und überwiegend kanonische Aktivsätze produzierten. Darüber hinaus verteilten sich die Fixationen auf das Agens und das Patiens in den ersten 300 Millisekunden (ms) nach Ereignis-Onset gleichmäßig, bevor anschließend eine andauernde Fixationspräferenz für das Agens bis kurz vor Sprechbeginn gezeigt wurde. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Informationsverarbeitung während des Sprechens im Deutschen und Chinesischen grundsätzlich ähnlich verläuft, und zwar mit der strukturellen Inkrementalität als Hauptstrategie. Jedoch wird angenommen, dass die Ursachen für die ähnlichen Verarbeitungsmechanismen wohl unterschiedlich sind. Diese werden aus Sicht der typologischen Eigenschaften des Deutschen und Chinesischen diskutiert.

Schlüsselwörter: Satzplanung, Inkrementalität, Deutsch, Chinesisch

To describe the sentence production mechanism, psycholinguistics generally distinguish between the linear and the structural incrementality hypothesis. The present study aimed to test both hypotheses in the context of German and Chinese sentence production. To this end, an eye-tracking experiment was conducted in which German and Chinese native speakers described depicted transitive events in their native languages. Using the visual priming paradigm, the visual accessibility of the event-forming figures was systematically manipulated. It was shown that the subjects were hardly (in Chinese) or only to a limited extent (in German) influenced by the visual manipulation and produced predominantly canonical active sentences. In addition, fixations were evenly distributed between the agent and the patient during the first 300 milliseconds (ms) after picture onset and subsequently showed a durable fixation preference for the agent until shortly before speech commenced. These results suggest that information processing during sentence production in German and Chinese is basically similar, with structural incrementality as the main strategy. However, it is assumed that the reasons for the similar processing mechanisms are probably different. These are discussed from the perspective of the typological characteristics of German and Chinese.

Keywords: sentence planning, incrementality, German, Chinese

Petra Storjohann
Paronymie und Sprachwandel

Dieser Beitrag geht der Frage nach, welche Faktoren beim Bedeutungswandel von deutschen Paronymen (z. B. effektiv/effizient, virtuell/virtual, nicht ehelich/unehelich/außerehelich) eine Rolle spielen und wie sich diese im aktuellen Sprachgebrauch zeigen. Dabei können gerade Korpusanalysen unterschiedliche Tendenzen sprachlicher Entwicklung aufdecken. Als morphologische Alternativen können Paronyme durchaus das sprachliche Inventar bereichern und der Sprachgemeinschaft neue lexikalische Varianten zur Verfügung stellen. In anderen Fällen konkurrieren Paronyme stark miteinander und dadurch verändern sich Verwendungsweisen. Zusätzlich ist häufiger fehlerhafter Gebrauch ein wichtiger Impuls für semantische Veränderungen. Als Ergebnis beobachten wir semantische Angleichungen oder lexikalische Verdrängungen. Zahlreiche Ausdrücke haben sich in der jüngsten Sprachgeschichte semantisch, stilistisch oder diskursiv spezialisiert, um veränderten sprachlichen Bedürfnissen sowie neuen kommunikativen Situationen Rechnung zu tragen. Die Ursachen und Folgen des Wandels von paronymen Zweifelsfällen sind vielschichtig. In diesem Beitrag werden einige konkrete Ausdrücke näher beleuchtet, ihre gebrauchsorientierte Untersuchung, aber auch Möglichkeiten der lexikografischen Dokumentation werden erörtert.

Schlagwörter: Bedeutungswandel, Paronyme, lexikalische Variation, sprachlicher Zweifel, lexikografische Dokumentation

In this paper, we explore the influences and parameters which can trigger meaning change of German paronyms such as effektiv/effizient, virtuell/virtual, nicht ehelich/unehelich/außerehelich, engl.: effective/efficient, virtual, non-marital/illegitimate/extramarital. It is argued that these manifest themselves in current language usage and that corpus-based analyses facilitate methodological consistency to reveal tendencies of linguistic developments. On the one hand, morphological alternatives can enrich the language inventory and offer new linguistic variants to their language community. On the other hand, confusables strongly compete with each other, and this causes semantic change of contextual usage patterns. In addition, frequent misuses are an important stimulus for meaning change. As a result, we observe semantic assimilation or full lexical replacement. In recent language history, numerous paronym terms have specialised in terms of their meaning, stylistic and discursive use respectively. By doing so, they adapt to new linguistic needs and account better for different communicative situations. The causes and consequences of meaning change of easily confused items are multi-facetted and complex. This paper examines some specific cases more closely with regard to their usage-based investigations, but also in terms of their lexicographic documentation.

Keywords: meaning change, paronyms, lexical variation, lexical confusion, dictionary documentation

Hana Ikenaga
Keine Sonderstellung[k] für Hannover als Zentrum des Hochdeutschen

Die Stadt Hannover und die Hannoveraner sind in der deutschen Bevölkerung bekannt für ihre reine Aussprache des Hochdeutschen. Während zwischen Linguisten jedoch Einigkeit herrscht, dass die Hannoveraner kein reines Hochdeutsch sprechen, dass deren Aussprache sogar dialektal geprägt ist, scheint der Sprachmythos fest im Bewusstsein von Nicht-Linguisten verankert zu sein. Hieraus ergeben sich zwei essenzielle Fragen, denen auf den Grund gegangen werden soll: Erstens, wieso hält sich der Sprachmythos so hartnäckig, wo ihm Sprachwissenschaftler – sogar unabhängig voneinander – einstimmig widersprechen, und zweitens, auf welche empirische Grundlage stützen die Sprachwissenschaftler ihre Aussage?

Der vorliegende Beitrag reiht sich in die Forschung soziolinguistischer Untersuchungen ein und unternimmt den Versuch, die Diskrepanz zwischen Behauptung und Wissen in Bezug auf die hannoversche Sprachreinheit aufzuzeigen und dem Mythos des reinsten Hochdeutsch empirisch auf den Grund zu gehen. Hierfür wurden Sprachdaten von 32 Hannoveranern aufgenommen und die Vorkommen standardsprachlicher oder nicht standardsprachlicher Merkmale quantitativ ausgewertet.

Schlagwörter: Hannover, reinstes Hochdeutsch, Sprachmythos, Soziolinguistik, Stadtsprache

Among the German population, the city of Hanover and its inhabitants are known for their pure pronunciation of standard German. However, while linguists agree that Hanoverians do not speak pure standard German, that their pronunciation is even dialectal, the language myth seems to be firmly anchored in the mind of non-linguists. Two essential questions arise from this: firstly, why is the language myth so persistent, whereas linguists unanimously contradict it—even independently of each other—, and secondly, on what empirical data do linguists base their statement?

The present article takes its place in the research of sociolinguistic studies and attempts to show the discrepancy between assertion and knowledge with regard to the purity of the Hanoverians’ pronunciation and to empirically investigate the myth of the purest standard German. For
this purpose, language data of 32 Hanoverians were recorded and the occurrences of standard or non-standard language features were quantitatively analyzed.

Keywords: Hanover, purest standard German, language myth, sociolinguistics, city language

Rezensionen

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Christoph Frilling
Sonja Günther: Unsichere Gespräche. Zur Interaktion von Arzt, Patienten und nichtmenschlichen Akteuren in der Neuroonkologie

Roman Beljutin und Julija Beljutina
Anna Mattfeldt: Wettstreit in der Sprache. Ein empirischer Diskursvergleich zur Agonalität im Deutschen und Englischen am Beispiel des Mensch-Natur-Verhältnisses

Jochen Stöhr
Klaus Brinker/Hermann Cölfen/Steffen Pappert: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden

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Bernhard Pörksen/Friedemann Schulz von Thun: Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik