Name und Gesellschaft. Soziale und historische Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung
Jürgen Eichhoff, Wilfried Seibicke und Michael Wolffsohn (Hgg.). Mannheim u. a.: Dudenverlag 2001. 320 Seiten. ISBN: 3-411-70581-7 (= Duden. Thema Deutsch, 2). 25 €.
Die von Rudolf Hoberg, Karin Eichhoff-Cyrus und Matthias Wermke im Auftrag der Gesellschaft für deutsche Sprache und der Dudenredaktion herausgegebene Reihe Thema Deutsch behandelt aktuelle, sowohl die breite Öffentlichkeit als auch Fachkreise interessierende Fragen rund um die deutsche Sprache. Nachdem im ersten Band unter dem Titel Die deutsche Sprache zur Jahrtausendwende. Sprachkultur oder Sprachverfall? Beiträge zu zentralen Tendenzen im Gegenwartsdeutschen versammelt waren (siehe Besprechung im Sprachdienst, Heft 6/2002, S. 236), greift auch der zweite Band der Reihe ein aktuelles und gesellschaftlich höchst relevantes Thema auf. Es geht um »die vielfältige Welt der Namen im Spannungsfeld gesellschaftlicher Entwicklungen« (Klappentext), wobei insbesondere soziale, historische, politische und kulturelle Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung im Mittelpunkt der einzelnen Abhandlungen stehen. Diese spiegeln laut Herausgebern (Vorwort, S. 7) den aktuellen Stand und den Fortschritt der Namenforschung, bieten aber auch – ganz im Einklang mit der Gesamtkonzeption der Reihe – der interessierten Allgemeinheit einen Einblick in die vielfältige Welt der Namen. Empfehlenswert ist im Übrigen auch der im vergangenen Jahr erschienene, von Rudolf Hoberg herausgegebene dritte Band der Reihe, Deutsch – Englisch – Europäisch. Impulse für eine neue Sprachpolitik, der die Situation des Deutschen, auch im Verhältnis zum Englischen, unter die Lupe nimmt.
Der hier zu besprechende Sammelband teilt sich in drei thematische Blöcke, die jeweils unterschiedlichen Typen von Namen gewidmet sind. Ein Großteil der Beiträge beschäftigt sich mit Personennamen, neun davon mit Vor- (VN) und fünf mit Familiennamen (FN), die restlichen drei mit Örtlichkeitsnamen (ON); aus Platzgründen wird im Folgenden lediglich eine Auswahl vorgestellt.
Anhand einer quantitativen Analyse von VN versucht Michael Wolffsohn Rückschlüsse auf die öffentliche Meinung und den sozialen Wandel in vordemoskopischer Zeit zu ziehen. Deutsche Vornamen der letzten 200 Jahre werden als empirisches, umfrageähnliches Material ausgewertet, das Hinweise auf die jeweilige politische Einstellung der Bevölkerung geben kann. Der Rückgang von Heiligennamen im 19. Jahrhundert beispielsweise zeugt von der zunehmenden Säkularisierung in dieser Zeitperiode, während sich der Zuwachs an südwesteuropäischen und angloamerikanischen Namen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auf wachsende kulturelle Vielfalt und Pluralität zurückführen lässt. Thomas Brechenmacher untersucht auf der Grundlage von jüdischen Standesregistern, Mitgliederlisten jüdischer Gemeinden und der Volkszählung von 1939 das Verhältnis von jüdischen und nichtjüdischen Vornamen der Juden, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland lebten. Zu beobachten ist eine deutliche Tendenz der Abnahme jüdischer Namen vom Beginn des 19. Jahrhunderts an, was der Autor als Effekt der in dieser Zeit vollzogenen rechtlichen Gleichstellung der Juden interpretiert. Eine Übersicht der beliebtesten Vornamen in den alten und neuen Bundesländern im Zeitraum von 1960-2000 gibt Gerhard Müller, indem er Daten aus verschiedenen Erhebungen in äußerst anschaulichen Tabellen zusammenträgt. Dabei werden die sich wandelnden modischen Trends und auch ein festes, wiederkehrendes Kurvenmodell der Vornamenwahl erkennbar, das Aufstieg, Verbreitung und Abstieg von Vornamen als idealtypische Entwicklung beschreibt. Udo Rudolph stellt eine Studie zur sozialen Wahrnehmung von Vornamen vor, insbesondere in Bezug auf Stereotypen, die das Alter, die Attraktivität und Kompetenz der jeweiligen Namensträger betreffen. Die befragten Personen sollten Einschätzungen zu männlichen und weiblichen Vornamen der Kategorien »altmodisch« (z. B. Elfriede), »zeitlos« (z. B. Christiane) und »modern« (z. B. Julia) abgeben. Erwartungsgemäß erfolgte eine tendenziell angemessene Alterszuordnung, wobei mit jüngeren Namen die höchste Attraktivität und Intelligenz assoziiert wurde, mit älteren Namen hingegen die jeweils geringste.
Den thematischen Block zu den FN eröffnet ein Beitrag von Friedhelm Debus, der die Entwicklung der deutschen Familiennamen aus sozioökonomischer Perspektive umreißt. Als Grund für die Entstehung der Familiennamen aus Beinamen im 12. Jahrhundert führt der Autor das Wachstum der mittelalterlichen Siedlungen zu Städten sowie die Verkleinerung des Vornamenpools – zusammengesetzte germanische Namen wichen christlichen Heiligennamen – an. Schließlich wird eine Klassifikation vorgestellt, in der FN nach ihrer Entstehungsart (Rufname, Herkunft, Wohnstätte, Stand/Beruf, Übername) kategorisiert werden. Konrad Kunze beschäftigt sich mit der Verbreitung der häufigsten deutschen FN (Müller, Schmidt, Meyer, Hoffmann, Schulz, Schneider, Schröder, Wagner, Fischer, Weber, Becker) und ihren Varianten, wobei als Datenbasis Telefonanschlüsse der Jahre 1995 und 2000 zu Grunde gelegt werden. Der Autor stellt fest, dass es sich im Unterschied zu benachbarten Sprachen ausschließlich um Berufsbezeichnungen handelt und dass die neuen, computergenerierten Daten der Namenkunde und -geografie zahlreiche weitere Fragen eröffnen. In einem kulturgeschichtlich höchst spannenden Beitrag fragt Karlheinz Hengst nach dem Kulturwert slawischer Nachnamen (z. B. Motzki und Mazur) im deutschen Sprachgebiet, in dem sie immerhin 15 % aller FN ausmachen. Die slawischen, teils in das deutsche Sprachsystem integrierten FN erweisen sich als Träger vielfältiger kulturhistorischer Informationen und als ein Schlüsselelement der (anzustrebenden) kulturellen Integration im vielsprachigen und multinationalen Europa. Einen Blick über die Grenzen des deutschen Sprachgebiets hinweg wagt auch Jürgen Eichhoff, der die interessante Frage der Anglisierung deutscher FN in den USA behandelt. Analphabetismus, ein lockeres Namensgesetz und lautlicher Transfer haben u. a. zur Entstehung vielfältiger Namensformen aus wenigen Ursprungsschreibungen geführt. Der Integrationsprozess deutscher FN in die amerikanische Namenwelt wird auf der Grundlage zahlreicher Beispiele und mit Hilfe einer differenzierten Typologie anschaulich gemacht.
Dietz Bering stellt im ersten Beitrag des dritten Blocks, der den ON gewidmet ist, den Entwurf des Projekts Die sprachliche Selbstkonstituierung Nordrheinwestfälischer Städte aus dem Jahr 1989 vor, der seit seiner Entstehung zahlreiche interdisziplinäre Studien zur Kulturgeschichte von Straßennamen angestoßen hat. Eine Forschergruppe um den Autor an der Kölner Universität hat vor diesem Hintergrund ein großes Projekt zur Kulturgeschichte der Kölner Straßennamen begonnen und jüngst zum Abschluss gebracht. Kulturtheoretische Grundlagen der Untersuchung von Straßennamen erörtert Peter Glasner in seiner Abhandlung, wobei er insbesondere die Entwicklung der Straßennamen »vom Ortsgedächtnis zum Gedächtnisort« in der Zeit vom Mittelalter bis zur Neuzeit nachzeichnet. Essenziell ist dabei der epochale Wandel »des städtischen Namensschatzes von einem durch Alltagszwänge konstituierten Ortsgedächtnis zu einem identitätsstiftenden kulturellen Gedächtnis der Stadt« (S. 283). Ingrid Kühn beschäftigt sich im letzten Beitrag des Bandes ebenfalls mit Aspekten öffentlicher Erinnerungskultur, und zwar am Beispiel der nach der Wende begonnenen Umbenennung zahlreicher Straßen in den neuen Bundesländern. Die Autorin verdeutlicht die politische Brisanz von Namensstreichungen und Neubenennungen, die in der Symbolträchtigkeit und ideologischen Fundierung bestimmter Personen- bzw. Straßennamen begründet ist. Als eine Möglichkeit, derartige Schwierigkeiten zu umgehen und somit der Kurzlebigkeit von Straßennamen entgegenzuwirken, wird der Verzicht auf Namen mit politischer Komponente (z. B. Bill-Clinton-Platz oder Straße des Klassenkampfes) vorgeschlagen. Solch ein politisch korrektes Benennungsverhalten würde allerdings zum Wegfall einer zentralen, im Beitrag Glasners thematisierten Funktion von Straßennamen führen, ihrer Funktion als (politisch-)kulturelles Gedächtnis einer Stadt.
Insgesamt bietet der Sammelband einen spannenden Einblick in die verschiedenen Gegenstandsbereiche, methodischen Vorgehensweisen und aktuellen Tendenzen innerhalb der Namenforschung in sozialer und historischer Perspektive. Die Beschränkung des Abschnitts zu Örtlichkeitsnamen auf den Bereich der Straßennamen ist zwar bedauerlich, angesichts der für einen Sammelband ohnehin großen Anzahl von 17 Beiträgen jedoch wohl unumgänglich. Lobenswert ist der Umstand, dass auch die Namengebung und -entwicklung in anderen Sprachen und Kulturen in den Blick genommen wird.
Ein Muss für alle, die sich aus beruflichem und privatem Interesse mit Namen beschäftigen.« Die Empfehlung des Verlages verdient uneingeschränkte Zustimmung, zumal es wohl kaum jemanden gibt, der sich über eigene und fremde Vor-, Familien- und Ortsnamen nicht früher oder später einmal Gedanken macht.
Marijana Soldo, Hannover