Ausgabe: Der Sprachdienst 3/2023

Narrativ

Narrative sind heute sehr beliebt in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft Foto: Mystic Art Design (Pixabay)

Bereits seit 2011 lesen Sie an dieser Stelle in jedem neuen Sprachdienst-Heft ein Zeit-Wort. Diese Zeit-Wörter liegen natürlich nicht einfach auf der Straße herum – nein, sie fliegen uns zu! Wir sind dankbar dafür, dass sie uns als ihre neuen Hüter ausgewählt haben, damit wir ihnen ein Heim auf Zeit geben können, und kümmern uns mit Hingabe um sie. Wir (unter-)füttern sie mit Inhalten, wir hegen und pflegen sie durch Aufklärung, wir widmen ihnen unsere volle Aufmerksamkeit, indem wir genau hinsehen und so auch ihre Hintergründe und Untiefen erkennen und berücksichtigen. Wir sperren sie nicht ein, um sie nach unseren Wünschen zu formen, sondern lassen sie sein, wie sie sind, und gehen, wohin sie wollen. Wenn es sich um sehr eigenwillige Exemplare handelt, sind wir vorsichtig im Umgang mit ihnen und stellen auch mal Warnhinweise auf. Die Wörter fühlen sich meist wohl bei uns und gut umsorgt; doch nicht alle wollen bleiben. Sie ziehen weiter und wir lassen sie gewähren. Wir wollen keines unnötig oder gar gegen ihren Willen festhalten oder zu sehr an ihnen hängen, wenn ihre Zeit sich dem Ende neigt. Und wir wissen ja, dass der Wind sich dreht, dass Sprache sich wandelt und dass neue Wörter zu uns finden werden, um die wir uns kümmern können.

Nanu? Ein ungewöhnlicher Anfang für ein Zeit-Wort. Dass diese kleine Geschichte im wörtlichen Sinne nicht ganz stimmen kann, dürfte klar sein; sie dient jedoch einem bestimmten Zweck: Ihnen, unseren Leserinnen und Lesern, sozusagen »am lebenden Objekt« aufzuzeigen, worum es dieses Mal geht. Denn wissen Sie, was diese Einführung auch ist? Richtig: ein Narrativ.

Vielleicht ist es Ihnen schon früher einmal begegnet – möglicherweise in Ihrer Schulzeit –, denn ganz neu ist dieses Wort nicht. Doch erst seit 1986 gewinnt es laut Digitalem Wörterbuch der deutschen Sprache zunehmend an Relevanz, hatte eine erste kleine Hoch- Phase im Jahr 1996 und nimmt seit gut zehn Jahren ordentlich an Fahrt auf – noch einmal ganz besonders seit Beginn des Ukrainekriegs im letzten Jahr (vgl. dwds.de). So war das Wort Narrativ bereits Bestandteil unseres Lexikons »Krieg und Sprache«, das wir im letzten Jahr sukzessive veröffentlicht haben.1 In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob vielleicht auch ein Zusammenhang zwischen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im Jahr 1986 und den ersten wesentlichen Belegen des Ausdrucks in eben diesem Jahr besteht – eine Frage, die wir nicht beantworten, aber die Sie vielleicht im Verlauf der folgenden Ausführungen nachvollziehen können.

Aus dem Literaturunterricht kennen wir ein Narrativ als Erzählstruktur, einen erzählenden Rahmen für eine Geschichte bzw. eine Folge von Ereignissen. Über diesen engen Verwendungsbereich hinaus ist ein Narrativ viel allgemeiner auch eine »sinnstiftende Erzählung«, die einen (vorgefundenen oder konstruierten) »Zusammenhang zwischen einer Folge von Ereignissen oder Sachverhalten« herstellt und dabei das Ziel verfolgt, ein Verhalten zu legitimieren oder ein be- 1 https://gfds.de/kleines-lexikon-krieg-undsprache/# Narrativ stimmtes Selbstbild zu erschaffen (vgl. dwds.de). Ein solches Narrativ hat die Aufgabe, einerseits komplexe Sachverhalte zu reduzieren und verständlich darzustellen; viel wichtiger ist andererseits aber der Zweck, Verständnis und Zuspruch bei den Rezipientinnen und Rezipienten zu erzeugen. Ob die dem Narrativ zugrundeliegenden Behauptungen dabei Fiktion oder Fakten sind, spielt eine untergeordnete Rolle, und der Wahrheitsgehalt ist oft schwer nachprüfbar; wichtig ist vor allem, dass darüber eine möglichst große Anhängerschaft mobilisiert wird, indem an deren Emotionen und Werte appelliert wird. Narrative entfalten ihre Wirkung also auf der Gefühlsebene.

Ein sehr aktuelles Beispiel ist die auf Lügen basierende Rechtfertigung des Kremls für den Angriffskrieg gegen die Ukraine: Dies ist ein klassisches, alle Kriterien erfüllendes Narrativ (und wohl einer der Gründe, warum dieses Wort derzeit so häufig zu vernehmen ist). In Politik und Gesellschaft werden Narrative auf der einen Seite dazu genutzt, die eigenen Argumente so zu verpacken, dass sie große Überzeugungskraft erhalten oder sogar manipulativ wirken; andererseits werden die Darstellungen anderer als Narrative »enttarnt«, um sie zu relativieren oder gar als Lügen zu entlarven.

Mit dieser Bedeutung hat sich das Wort erst in den 1970er-Jahren entwickelt; es wurde damals vom französischen Philosophen Jean-François Lyotard genutzt, um zu beschreiben, wie bedeutsame Konzepte namhafter Philosophen wie Kant und Hegel unsere Gesellschaft geprägt haben. Das Substantiv Narrativ geht ebenso wie das Adjektiv narrativ auf das Lateinische zurück, wo das Verb narrare nichts anderes als ›erzählen‹ bedeutet. In der Sprachwissenschaft gibt es die Bezeichnung Narrativ hingegen schon lang: Es handelt sich um einen Sammelbegriff für verschiedene grammatische Strukturen, die in erzählenden Texten verwendet werden, etwa in Form eines Kasus im Georgischen oder eines Tempus im Hebräischen.

Ein Narrativ im heute verbreitetsten Sinne ist also eine Geschichte; sie unterscheidet sich jedoch von rein fiktiven Erzählungen dadurch, dass sie auf tatsächlichen Ereignissen beruht. Als prominentes Beispiel gilt das Narrativ »Vom Tellerwäscher zum Millionär«, das den amerikanischen Traum beschreibt: Ein solcher Aufstieg mag einigen Menschen in der Tat gelungen sein, und Erzählungen darüber führten schließlich zur Entwicklung des Narrativs. Interessant ist, dass es dieses Narrativ schon viel länger gibt als die hier verwendete Bezeichnung; zuvor hätte man es wohl als Motiv, Mythos oder gar als Ideologie beschrieben.

Damit aus Fakten oder Ereignissen ein Narrativ entsteht, werden sie also in Geschichten verpackt; die Fakten an sich ändern sich natürlich nicht, aber die sie umgebenden Erzählungen sind variabel, dadurch können – und sollen! – sie unterschiedliche Emotionen ansprechen. Ein Schlagwort, das in diesem Zusammenhang heutzutage ebenfalls immer häufiger fällt, ist Storytelling, das Konstruieren von Geschichten rund um Ereignisse, Fakten oder auch Produkte und Dienstleistungen, gern genutzt in der Werbung und im Marketing. Über diese Geschichten lassen wir Ereignisse, Fakten, Werbeversprechen etc. viel näher an uns heran – und geben ihnen so letztlich die Macht, uns zu beeinflussen.

Unsere kleine Geschichte vom Anfang ist das Narrativ der »Sprachpflegenden «, die die Sprache und ihren Wortschatz hegen und pflegen, ohne sie in einen Käfig zu sperren oder ihnen Zwänge aufzuerlegen. Der zugrunde liegende Fakt: Man kann sich um die Sprache und ihren Wortschatz kümmern, sie beobachten, auch pflegen und sich ihr annähern, doch sie im Status quo festzuhalten oder sie ihrer Natur entgegen zu verbiegen, ist nicht möglich. Diese Geschichte vermittelt ein viel eingängigeres, emotionaleres Bild unserer Arbeit als eine simple Feststellung. Ziel und Hoffnung ist dabei, Verständnis für das Wesen von Sprache und für unseren Umgang damit zu wecken. Was denken Sie: Hat es funktioniert?

Frauke Rüdebusch