Ausgabe: 4/2017

Regionale Mehrsprachigkeit: Zur Einführung in das Themenheft

Die in diesem Themenheft vereinigten Beiträge beschäftigen sich mit unterschiedlichen Ausprägungen von regionaler Mehrsprachigkeit und behandeln eine zumindest scheinbar sehr heterogene Sammlung von historischen und modernen Fallbeispielen aus der Soziolinguistik des Deutschen bzw. aus den geografischen Räumen, in denen Deutsch verwendet wird. Motivation für diesen Schwerpunkt war für den Gastherausgeber dieses Heftes, dass das Phänomen der regionalen Mehrsprachigkeit trotz seiner allgegenwärtigen Präsenz im Sprachalltag in Forschung und Lehre der germanistischen Linguistik häufig noch ignoriert oder zumindest marginalisiert wird. Gängige Einführungen in das Fach, aber auch Lehrbücher zur Soziolinguistik und zur Sprachgeschichte des Deutschen verbleiben in ihrer Themenwahl häufig bei den Schwerpunkten, die bereits in Vorgängerpublikationen zu finden waren. Absolut gesehen ist diese Aussage wohl etwas überspitzt: Aktuelle soziolinguistische Werke behandeln auch neue Themen wie z. B. elektronische Medien oder Sprachmischung und Sprachkontakt unter Jugendlichen (z. B. Löffler 2016; Veith 2005; Stevenson et al. 2017); Lehrwerke zur Sprachgeschichte berücksichtigen in verstärktem Maße Themen wie historische Mündlichkeit oder Variantenvielfalt auch im Mittelhochdeutschen (z. B. Besch/Wolf 2009; Nübling et al. 2010; Salmons 2012). Aber grundsätzlich lässt sich behaupten, dass das Studium der germanistischen Soziolinguistik – historisch wie auch modern – sich weiterhin ganz klar an Traditionen orientiert, die von zwei problematischen Prämissen ausgeht: i. Die deutsche Sprache wird vornehmlich durch die Standardsprache definiert und ii. die deutsche Sprache ist in erster Linie das Deutsche in Deutschland. Diese Prämissen werden natürlich nicht explizit formuliert, lassen sich aber immer noch in vielen Schriften, besonders auch in der für die Lehre konzipierten Werken, implizit erkennen. Problematisch ist hierbei, dass die deutsche Sprache als Einzelsprache angesehen wird, die in einem anderweitig geografischen Vakuum existiert. Dies entspricht natürlich nicht der Wirklichkeit, denn zum einen gibt es so etwas wie die deutsche Sprache ja nicht, sondern dies ist nur ein – praktischer und bequemer – Name für ein infinitäres Varietätenspektrum, und zum anderen steht dieses Varietätenspektrum ständig und schon seit Beginn seiner Existenz im Kontakt mit anderen Sprachen oder sprachlichen Varietäten. Sprachvariation und Sprachkontakt sind somit nicht peripher für unser Verständnis der germanistischen Soziolinguistik, sondern zentral, da diese sowohl soziolinguistische wie auch systemsprachliche Auswirkungen haben, auch wenn diese in der Regel nicht als solche anerkannt oder bemerkt werden.

Ziel dieses Themenheftes ist es somit, durch die hier veröffentlichten Beiträge auf die Wichtigkeit und Relevanz von soziolinguistischen Befunden hinzuweisen, die sich in gängigen Lehrbüchern für das Studium, wenn überhaupt, nur am Rande finden lassen. Diese Themen, die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Großbritannien, den USA und Deutschland erörtert werden, sind:

  • die »Vermarktung« von identitätsstiftenden und -wahrenden Stadtsprachen (Horan),
  • die Verwendung sozial markierter Regiolekte in Funkmedien (Wilcken),
  • die Wahrnehmung regionalsprachlicher Varianz und Salienz (Schröder),
  • die sprachenpolitische Dynamik von historischen Einwanderersprachen (Salmons),
  • die regionalsprachliche Markierung hochsprachlicher Texte in privater Schriftlichkeit (Jacob-Owens).

Gemein ist den Aufsätzen, dass sie sich mit individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit befassen. Hierbei umfasst der Ausdruck Mehrsprachigkeit auch die unterschiedlichen Varietäten des Deutschen (Missingsch, Kölsch, Schweizerdeutsch) wie auch den Kontakt zwischen autochthonen Minderheitensprachen (Nordfriesisch) und der hochdeutschen Schriftsprachen sowie den Kontakt zwischen rezenten Migrationssprachen (Deutsch in Amerika) und länger etablierten Sprachen. Aufgezeigt wird also, dass Wahrnehmung und Gebrauch von unterschiedlichen Sprachen und Varietäten für viele Menschen und Gesellschaften zum normalen Alltag gehört. Das soll aber nicht bedeuten, dass dieser damit als unmarkiert oder neutral empfunden wird. Die Verwendung einer Sprache oder Varietät ist immer auch eine pragmatische Entscheidung seitens des Sprechers, um Gemeinsamkeit und Unterschied, Gruppenzugehörigkeit und Status zu signalisieren. Dies spiegelt sich auch in den Beiträgen zu diesem Themenheft. Schröder zeigt in ihrem Aufsatz, wie das Wissen von Sprachvariation und -varietäten innerhalb der Schweiz von der Groß- und Kleinräumigkeit einer wahrgenommenen Sprachregion abhängt. Wilckens Beitrag beschreibt, wie eine soziolinguistisch eigentlich negativ markierte Kontaktvarietät, das Missingsch, in Funk und Fernsehen verwendet wurde, um gewisse regionale und individuelle Identitäten darzustellen, und zwar in der Regel humorvoll, aber nicht unbedingt explizit negativ. Horans Aufsatz zum Kölsch geht in der Entwicklung der Aufwertung regionaler Varietäten einen Schritt weiter und zeigt, wie die Kölsche Stadtsprache so sehr an Prestige gewonnen hat, dass sie gar an einer »Akademie« unterrichtet wird, in Anerkennung, dass Kölschsprechen ein – zumindest scheinbar – ausgezeichnet positives Merkmal geworden ist. Diese soziale Wertigkeit von regionalen Varietäten findet sich auch beim Beispiel »Deutsch in Amerika«, und zwar historisch wie auch heutzutage, wie Salmons diskutiert. In seinem Beitrag zeigt er, wie das Festhalten an der deutschen Sprache in Amerika zum einen durch ihre kommunikative Funktion in der deutschsprachigen Gemeinschaft motiviert war – wenn alle deutsch sprechen, spricht man natürlich auch deutsch –, zum anderen aber eben auch als Abgrenzung zur anglophonen Gesellschaft. Der abschließende Beitrag des Heftes von Jacob-Owens behandelt dann die unbeabsichtigte oder »unsichtbare« Verwendung von Sprachkontakt. In seiner Analyse historischer Briefe von Friesischsprechenden von der Insel Amrum zeigt er, wie das privat geschriebene Hochdeutsch sehr wohl von der Muttersprache beeinflusst wurde. Dies bedeutet nicht, dass solch ein Hochdeutsch kein Hochdeutsch ist, sondern nur, dass Hochdeutsch eben nicht überregional uniform ist, sondern dass es durchaus regionale Unterschiede gibt.

Diese Aufsätze sollen einen kleinen Beitrag dazu leisten, den üblichen Themenkanon der germanistischen Soziolinguistik um das Thema »regionale Mehrsprachigkeit« stärker als bislang zu erweitern. Durch die Einbeziehung historischer wie auch aktueller Daten und Beispiele sowie durch die Berücksichtigung von Sprachwahrnehmung, -gebrauch und -politik soll gezeigt werden, dass dieses Thema zahlreiche Berührungspunkte mit etablierten Forschungsbereichen hat. Regionale Mehrsprachigkeit, also langfristige Sprachkontakte im alltagssprachlichen Bereich geografischer Regionen, erweist sich hierbei als keineswegs peripher für unser Verständnis der sozialen Funktion von Sprache.

Wiesbaden und Flensburg, im Oktober 2017

Nils Langer