Reizwörterbuch. Für Wortschatzsucher
Ulrich Namislow. Obernburg am Main: Logo Verlag 2008. 101 Seiten. ISBN 978-939462-07-1. 12 €.
Im Zuge des Streites um die Sperrung von Internetseiten zum Schutz gegen Kinderpornographie hat sich im letzten Jahr ein Wort zum Schlagwort etabliert: Zensursula. Die Rede war von der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, die als zuständige Ministerin ein entsprechendes Gesetz im Bundestag verabschieden wollte.
Wortbildungen wie diese begegnen uns alltäglich und allerorts. Einige sind mittlerweile fester Bestandteil unseres Wortschatzes, wie etwa Smog oder Motel, andere, wie beispielsweise das angeführte Zensursula oder etwa Tiefstandpunkt, Marzipanflöte oder Wörterbuchhalter, können (noch) als Gelegenheitsbildungen klassifiziert werden, die entsprechend stilistisch markiert sind. Obgleich sie demnach nur selten in Wörterbüchern aufgeführt werden, darf man daraus nicht folgern, dass sie unscheinbare Gebilde der Sprache verkörpern. Im Gegenteil, sie stellen eine kreative Herausforderung für Produzenten und Rezipienten dar, da hier das bewusste Spielen mit der Sprache einerseits mit dem für Wortbildung üblichen Benennungsbedarf andererseits kombiniert wird.
Dies zeigt Ulrich Namislows Reizwörterbuch sehr eindrücklich, da es, so Cassis Kilian im Geleit, »888 Kofferwörter – eine Sammlung von Kleinstaphorismen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern mit Vielleichtsinn erweitert werden will« (S. 5), aufführt.
Auf den Seiten 7–80 werden sprachspielerische Bildungen wie z. B. Herzstichprobe, Löwenzahnweh, Übermorgenstern oder Rinderzungenkuss aufgelistet, die den Leser unterhaltsam zu kreativen Ent- und Verschachtelungen einladen. Dieser muss nämlich erst einmal erkennen, dass sich Rinderzungenkuss formal in Rinderzunge und Zungenkuss aufspalten lässt, dabei jedoch etwas benennt, das eine Kombination aus beidem darstellt.
Zeichnet sich das Reizwörterbuch durch leserfreundliche Übersichtlichkeit aus, da alle Belege gut erkennbar und mit deutlichem Abstand untereinander erscheinen, ist jedoch gleichzeitig zu konstatieren, dass sämtliche Einträge weder einem alphabetischen noch rückläufigen Prinzip folgen, was eine rasche und gezielte Orientierung erschwert. Auch ist keine thematische Gliederung bzw. eine Einteilung nach Sachgruppen gegeben, obwohl Bildungen wie Überseepferd, Abendrotwildente, Friseursalonlöwe, Wildschweinehund oder Stoppschildkröte semantisch zur Gruppe der Tiere gehören. Eine solche Einteilung würde zudem offen legen, für welche Bereiche der Alltagswelt diese Belege eine Benennungslücke schließen.
Was die Bildungen zusätzlich in einem etwas luftleeren Raum verharren lässt, ist zum einen die Tatsache, dass die Herkunft nicht angegeben wird. Handelt es sich um tatsächliche Belege aus Zeitungen, dem Internet, der gesprochenen Sprache oder sind es gar kreative Produkte des Autors? Würden die Beispiele in einem Textzusammenhang präsentiert, könnte dies auch die Erschließbarkeit der Bedeutung erleichtern.
Zum anderen fehlen sämtliche für Wörterbücher übliche grammatische und semantische Charakterisierungen der Einträge. Diese wären wünschenswert – und der gängigen Lexikographie folgend notwendig –, wenn es sich im vorliegenden Fall um ein Reizwörterbuch handelt. Bei der Interpretation als Reizwörterbuch indes kann der Autor ganz bequem dem sprachspielerischen Vermögen seiner Leser/-innen vertrauen und erklärende Ergänzungen lediglich unterstützend liefern.
Im Anschluss an die Sammlung der Reizwörter erscheint ein Kapitel über »Nachwortbildung – Linguistisches über Reizwörter« von Elke Donalies (S. 83–101). Sie führt auf auch für linguistische Laien gut verständliche Weise zunächst in die Grundlagen der Wortbildung ein, indem sie die gängigsten Wortbildungsarten präsentiert. Ausführlich und mit vielen nachvollziehbaren Beispielen versehen geht sie auf die beiden wichtigsten Untertypen der sog. Kontamination ein, die durch die Bildungen Lakritzelei einerseits und Aktenbergsteiger andererseits repräsentiert werden.
Donalies klassifiziert Kontamination als »eine Unterart der Komposition, weil sie ein kombinierendes Verfahren ist und weil immer Wörter beteiligt sind« (S. 89–90). Das Verhältnis zwischen den beteiligten Gliedern bleibe dabei immer vage: »Was zwei Kompositateile miteinander aussagen, orientiert sich zwar an den beiden Teilen, bleibt aber ungefähr« (S. 98).
Obwohl sich die Bedeutung von Komposita meist nicht auf die Bedeutung der einzelnen beteiligten Elemente reduzieren lässt, nehmen wir in der Regel doch prototypische Bedeutungsmuster an. Bei dem von Donalies angeführten Beispiel Hutschachtel (S. 98) wäre die Bedeutung ›Schachtel für Hüte‹ sicher in vielen Kulturen prototypisch und die ebenfalls vorstellbaren, aber wohl stärker kontextabhängigen Bedeutungen ›Schachtel in Form eines Hutes‹ oder ›Schachtel unter Hüten‹ weniger prototypisch. Diese prototypischen Konzepte beruhen unter anderem auf kulturellen Vorstellungen und Erfahrungswissen, die sich nur schwerlich auf die Bildungen übertragen lassen, die Namislow in diesem Wörterbuch erfasst. Hier sind weitgehend der Textzusammenhang und die Betonung ausschlaggebend, um entscheiden zu können, ob mit einem Elfenbeinbruch ein Elfenbeinbrúch oder ein Élfenbeinbruch gemeint ist.
Fazit: Für wissenschaftliche Zwecke, was zugegebenermaßen nicht das Hauptinteresse des Autors darstellt, ist das Reizwörterbuch in seiner jetzigen Form leider nur bedingt tauglich. Für die eigentliche Zielgruppe, Dichter, Comedians und Feuilletonisten, stellt es jedoch eine sehr interessante und originelle Sammlung von Kofferwörtern bereit, an denen sich jeder kreativ-assoziativ ausprobieren und die jeder reizwortspielerisch ergänzen kann.
Sascha Michel, Koblenz