Verwendung von sowohlals auch

[F] Ich bin ein japanischer Wissenschaftler und stoße auf eine mir unverständliche Formulierung. In dem Artikel Der Sozialpatriotismus in Polen von Rosa Luxemburg heißt es: »Heute führt das Proletariat einen alltäglichen politischen Kampf, wobei es sich keinesfalls auf die Straße provozieren lassen will. Da sind ihm nicht sowohl die Bajonette Rußlands gefährlich als sein reaktionärer diplomatischer Einfluß auf Europa; dieser kann aber nicht durch eine physische Mauer, sondern durch die Vernichtung des Zarismus im eigenen Lande vernichtet werden.« (Gesammelte Werke, Bd. 1, 1. Halbband.)

Wie soll man den zweiten Satz (»nicht sowohl die Bajonette … als sein … Einfluß«) verstehen: 1. ob beides (die Bajonette Russlands und sein reaktionärer diplomatischer Einfluss auf Europa) für das Proletariat gefährlich ist oder 2. ob nicht die Bajonette, sondern der Einfluss Russlands auf Europa für das Proletariat gefährlich ist?

[A] Sie haben eine Stelle mit einer heute veralteten Wendung vor sich, die von den aktuellen Wörterbüchern, auch denen für den Bereich Deutsch als Fremdsprache, nicht vermerkt wird. Nur die neueren Auflagen des Deutschen Wörterbuchs von Hermann Paul (1992, 2002), das ja auch den früheren Sprachgebrauch registriert, nennen sie.

Die zweiteilige Konjunktion sowohl – als auch, die ja nebenordnenden, verknüpfenden Sinn hat (= ›nicht nur – sondern auch‹), wurde im 18. und 19. Jahrhundert negativ mit nicht gebraucht, man kann sie auch noch bei Thomas Mann finden. Sie trat dabei in der Form wie hier bei Rosa Luxemburg auf: nicht sowohl – als. Die Bedeutung ist hier nicht nebenordnend und anreihend, sondern ausschließend und entgegensetzend. J. H. Campe hat sie in sein Wörterbuch der Deutschen Sprache (1810) aufgenommen und sagt zum Wort sowohl (hier in der Schreibweise sowol): »Mit nicht dient es auch, eine Ausschließung, eine Ausnahme zu bezeichnen. Nicht sowol auf ihn als auf sein Geld ist es abgesehen. Ich meine nicht sowol seine Person, als sein Äußeres.« Diese Darstellung finden sich später im Deutschen Wörterbuch von Grimm (Band 10.1, 1905) und, wie erwähnt, bei Hermann Paul; nicht sowohl – als werde gewöhnlich gebraucht im Sinne von ›nicht – sondern‹. Die Luxemburg-Stelle ist also so zu lesen, als stünde dort nicht – sondern, so wie Sie es unter Punkt 2 dargestellt haben.

Zur Ergänzung und Veranschaulichung noch einige Parallelbeispiele aus der Literatur:

»Aber das gute Gewissen hängt nicht sowohl mit einzelnen Handlungen, als mit der ganzen inwendigen Gestalt und Verfassung des Menschen zusammen.« (Matthias Claudius, Asmus omnia sua secum portans). »Nun ist es aber nicht sowohl die Masse meines Schauspiels als vielmehr sein Inhalt, der es von der Bühne verbannet« (Friedrich Schiller, Die Räuber). »Überdies war denen, welche bisher am lautesten getadelt haben, im Grunde nicht sowohl die Sprache als die Seele, die ganze Art zu empfinden und zu leiden, anstößig und unerhört« (Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen). »Industrieausstellungen sind Ausstellungen von Erzeugnissen des Gewerbsfleißes nicht sowohl zum Zwecke des Verkaufs, als um ein Bild von dem Gewerbsfleiße eines Landes zu geben« (Herders Conversations-Lexikon, 1854–1857, Bd. 3). »Nicht sowohl ihr Jammergeschrei als ihre trostlose Verlassenheit drang zum Himmel empor« (Bertha von Suttner, Die Waffen nieder!).

Klar wird die fragliche Bedeutung ohne weiteres, wenn vielmehr hinzutritt, so wie in diesen Stellen von J. v. Eichendorff, J. W. Goethe und G. Freytag: »Begeisterung, wie sie z. B. in der Genoveva aufleuchtet, nicht sowohl die Gewalt religiöser Gefühle und Überzeugungen als vielmehr das poetische Formen-Bedürfnis eines wähligen Talents« (Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands). »Durch Klopstocks Oden war denn auch in die deutsche Dichtkunst nicht sowohl die nordische Mythologie, als vielmehr die Nomenklatur ihrer Gottheiten eingeleitet« (Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit). »›Nicht sowohl Friede, Eure Exzellenz, als vielmehr Beute‹, antwortete Gottlieb« (Die Ahnen). Gemeint ist also ›nicht – vielmehr‹ = ›nicht – sondern‹.

Wieder anders hingegen wird verneintes sowohl in einem Gedicht von B. H. Brockes (1680–1747: Irdisches Vergnügen in Gott) gebraucht: »Die redende Bluhme: Mein Bruder, lieber Mensch, (verwundere dich nicht,/Daß meine Wenigkeit zu dir: mein Bruder! spricht./Ich habe Recht dazu, du wirst es selbst gestehen,/Wenn du mich angehört, und mich recht angesehen.)/Mein Bruder, sprech‘ ich denn noch einmahl, sage mir,/Wie kommst du dir so groß, ich so verächtlich, für? Sind wir, durch eines Schöpfers Macht,/Nicht alle beyd‘ hervor gebracht? Ist deine Mutter nicht die Erde, so wie meine?/Werd‘ ich von ihr nicht auch sowohl, als du, genährt?/Wie dein, ist auch mein, Leib mit Adern gantz durchröhrt,/Und diese sind mit Saft so wohl gefüllt, als deine.«

Brockes kombiniert nicht auch sowohl – als, wobei nicht Entgegensetzung, sondern Anreihung gemeint ist; beides trifft also zu.

Womöglich ist wegen der Unsicherheit und des Schwankens in der Bedeutung das negierte sowohl – als (auch) außer Gebrauch gekommen und unüblich geworden.