Ausgabe: Der Sprachdienst 4-5/2022

Müssen Studierende pausenlos studieren? Über substantivierte Partizipien

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[F] Ich höre immer wieder, dass von Studierenden statt von Studenten und Studentinnen die Rede ist. Aber wenn sie abends Party machen, sind es doch keine Studierenden! Was halten Sie davon?

[A] Derartige Aussagen erreichen uns immer wieder und es stellt sich die Frage: Müssen Studierende permanent studieren, damit man sie so bezeichnen kann, oder sind sie nur im Moment des Lernens tatsächlich Studierende? Schauen wir uns das Ganze einmal etwas genauer an.

Studierende ist ein substantiviertes Partizip I. Das Partizip I wird durch Anhängen von -d an den Infinitiv gebildet (Gerhard Helbig, Joachim Buscha, Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht, Leipzig 1999): studieren-d. Von einer Substantivierung spricht man dann, wenn ein ursprünglich einer anderen Wortart angehörendes Wort wie ein Substantiv verwendet wird (Duden. Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle, Berlin 2016). Bei substantivierten Partizipien oder Adjektiven wird das Genus beim indefiniten Artikel sowohl am Artikel als auch am Wort selbst deutlich: ein Studierender, eine Studierende. Beim definiten Artikel wird es nur im Singular deutlich: Der/die Studierende, der oder die Auszubildende, abgekürzt: d. Vorstandsvorsitzende. Im Plural gibt es keinen Unterschied: die Studierenden, die Auszubildenden, die Vorstandsvorsitzenden.

Insbesondere im attributiven Gebrauch hat das Partizip I aktivische Bedeutung, z. B. in ein lesendes Kind. Es sagt in einem solchen Gebrauch etwas über das Verhalten, die Tätigkeit des zugeordneten Substantivs aus und bezeichnet ein Kind, das liest. Jedoch gibt es Ausnahmen und das Partizip I in attributiver Stellung bedeutet nicht immer eine aktivische Handlung des genannten Subjekts – so bei die sitzende Arbeitsweise und die liegende Haltung, in denen das Partizip I nur attributiv gebraucht werden kann. Das Partizip gibt in diesen Fällen an, welches Verhalten mit dem im Substantiv Genannten verbunden ist, und zwar »die Arbeitsweise im Sitzen«, »die Haltung des Liegens«, aber nicht von diesem ausgeübt wird (ebd.), also nicht: »die Arbeitsweise, die sitzt« bzw. »die Haltung, die liegt«.

Das Partizip in der Genderdebatte

Die Verwendung generischer maskuliner Formen steht in der Genderdebatte in der Kritik, daher wird nach Ersatzformen gesucht, um geschlechtergerecht zu formulieren. Eine Möglichkeit, nicht geschlechtsbezogen zu formulieren, entsteht durch die Substantivierung von Partizipien oder Adjektiven, da hier, wie oben erwähnt, vor allem im Plural kein Genus erkennbar ist. Diese grammatische Form ist keine neue, wie die bekannten substantivierten Partizipien die Auszubildenden, die Heranwachsenden zeigen. Ein weiteres Beispiel, welches die Bedeutung des Partizips erweitert, sind stillende Frauen, die ihren Säugling über den Zeitraum von einigen Monaten oder sogar Jahren stillen. In diesem Zeitfenster sind sie Stillende – sowohl in dem Moment, in dem das Kind trinkt, als auch über den Zeitpunkt hinaus, wenn der Säugling satt ist und die Mutter ihn wieder von der Brust nimmt.

Die Meinung, Studentinnen und Studenten könnten nur als Studierende bezeichnet werden, wenn sie nichts anderes täten als durchgehend zu studieren oder exakt in dem Moment, in dem sie der Tätigkeit des Studierens nachgehen, stützt sich auf nur eine von mehreren Verwendungsmöglichkeiten des Partizips I – auf den aktivischen Gebrauch. Die Bezeichnung die Studierenden ist jedoch weder ungrammatisch noch falsch verwendet, vielmehr gibt es neben der aktivischen, attributiven Verwendung des Partizips I weitere Kontexte, in denen diese grammatische Form auftritt: die Vorsitzenden, die Reisenden, die Anwesenden oder auch die Stillenden. Sie beschreiben entweder im Moment stattfindende oder gewöhnliche, wiederkehrende Handlungen (Anatol Stefanowitsch, Genderkampf, Berlin 2017).

Somit bezeichnet auch das substantivierte Partizip I Studierende eine Gruppe von Menschen, die gewöhnlich und über einen längeren Zeitraum gesehen regelmäßig studieren, nicht ausschließlich diejenigen, die im Augenblick, wenn von ihnen gesprochen wird, etwa in Vorlesungsräumen sitzen und Texte analysieren – ebenso wie Autofahrende nicht im Augenblick der Sprechsituation Auto fahren und Fahrradfahrende nicht in diesem Moment Fahrrad fahren müssen, sondern sie alle den jeweiligen Tätigkeiten über einen längeren Zeitraum hinweg regelmäßig und/oder wiederkehrend nachgehen können.

Wir empfehlen daher den Gebrauch des Ausdrucks der/die Studierende, die Studierenden alternativ zu der Student/die Studentin, die Studenten und Studentinnen und haben dabei nicht die Erwartungshaltung, dass die so Bezeichneten ohne Unterlass studieren: So sind sie dann nicht nur Studierende, sondern zeitweise wohl auch Schlafende, Essende oder Feiernde.