»Unterschicht« – ein »prekärer« Begriff?
In schöner Regelmäßigkeit bringen Politiker Begriffe in die Debatte um die Gesellschafts(un)gerechtigkeit in Deutschland ein, die die Gemüter erhitzen – vielleicht, weil ihre geschichtliche Spur direkt in unser aller hochemotionales »kulturelles Gedächtnis« (Jan Assmann) führt. Franz Münteferings Heuschrecken war so ein Wort, das, an die biblische Plage erinnernd, Plage-Geister anderer Art metaphorisch zu kennzeichnen suchte: gewissenlose Unternehmer, die Firmen ausbeuten und zerstören.
Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck wollte dem verbal nicht nachstehen. Es gebe, so Beck jüngst in der Frankfurter Sonntagszeitung, zu viele Menschen, »die keinerlei Hoffnung mehr haben, den Aufstieg zu schaffen.« Sie hätten sich mit ihrer schlechten Lage arrangiert. Deutschland habe ein »Unterschichten-Problem«. Das übliche medial inszenierte Wechselspiel von Distanzierungen und Bekräftigungen aus allen Schichten der Politik und ihrer »Experten« folgte. Schon erreichen die GfdS Vorschläge, den Begriff Unterschicht zum Wort des Jahres 2006 zu wählen.
Unterschicht, zusammengesetzt aus der lokalen Präposition unter und dem aus dem mittelhochdeutschen schiht stammenden Substantiv, hat im Wesentlichen zwei Bedeutungen, eine geologische und eine soziologische, wobei die erste der zweiten als Vorlage diente. Campes »Wörterbuch der Deutschen Sprache« von 1811 kennt nur den prädikativen Sinn: »unterschichten, ich schichte unter, […] unter ein anderes Ding schichten«, während Grimms 1854 begonnenes »Deutsches Wörterbuch« beide Bedeutungen nennt: »untere schicht als unterschicht des bodens, gehölzes« und »bildlich: bei diesen unterschichten der bevölkerung«.
Angestoßen durch die Debatten im 19. Jahrhundert über die Klassengesellschaft und ihre Trennung in unterschiedliche Bevölkerungsschichten (Ober-, Mittel-, Unterschicht) mit jeweils ungleich verteilten Ressourcen, verschob sich der Akzent mehr und mehr hin zur soziologischen Semantik. Der zehnbändige Duden von 1999 hierarchisiert deshalb genau umgekehrt zu Grimm: Also erst »untere Gesellschaftsschicht« und dann »untere Schicht von etw.«
Ebenso wie Heuschrecken weckt Unterschicht negative, heikle, eben »prekäre« Assoziationen: Wer unten liegt, muss erst aufstehen und wer – um Günther Wallraffs populären Film von 1988 zu zitieren – »Ganz unten« ist, der kommt vielleicht nie wieder hoch. Anders als Proletariat, das im Marxschen Sinne zwar ausgebeutete, aber doch in Lohnarbeit stehende Menschen fasst, sollen nun zur Unterschicht gerade Langzeitarbeitslose zählen. Sie sind nicht nur materiell am Ende der Gesellschaft angekommen, sondern, so die Behauptung des umstrittenen Konservativen Ernst Nolte, auch kulturell, weswegen man von einer Neuen Unterschicht sprechen müsse.
Wohl weil die Friedrich-Ebert-Stiftung um die brisante Semantik des Begriffs wusste, sucht sie ihn in ihrer noch unveröffentlichten Studie über neue Armutsschichten in Deutschland zu vermeiden und durch eine nicht ganz neue Neuschöpfung zu ersetzen: Prekariat (aus franz. precaire, »durch Bitten erlangt, unsicher«, das aus dem lat. precarius zu precari »bitten« entstanden ist). Ist das altbekannte Wort Unterschicht gefährlicher als das doch irgendwie technokratisch klingende Prekariat? Die Frage bleibt offen. Mit Prekariat, so böse Zungen, sei erneut ein Terminus gefunden, der stigmatisiert, ohne dass die Stigmatisierten ihn verstehen können. Unten und oben versteht jeder. Aber sicher versteht auch jeder, was schon rein geologisch passiert, wenn einer oberen Schicht die untere weggezogen wird: Die obere fällt. Wie tief wir letztlich fallen, wie hoffnungslos wir liegen bleiben, wird sich zeigen. Auch in der Sprache. Wieder einmal.
Arndt Kremer