Ausgabe: Der Sprachdienst 6/2012

Was ist eigentlich ein Vielliebchen?

[F] In einer alten Ausgabe von Theodor Storms »Schimmelreiter« bin ich auf eine Widmung gestoßen, in der von einem Vielliebchen die Rede ist. Können Sie mir erklären, was es mit diesem Begriff auf sich hat?

@ CC-Lizenz

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[A] Der Ausdruck Vielliebchen bezeichnet eine Mandel mit zwei Kernen oder eine andere Zwillingsfrucht. Laut älteren (schwedischen) Quellen (Nordisk Familjebok, 1908) soll er auf das litauische Wort filibas für ›Pärchen‹ zurückgehen, mit dem die zwei Kerne einer Haselnuss gemeint sind. Solche zweikernigen Nüsse oder Früchte werden Anfang des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand eines gesellschaftlichen Wettspiels, des Vielliebchen-Essens. Bei diesem Spiel nehmen ein Mann und eine Frau je einen Teil meist einer zweikernigen Mandel ein. Wer beim nächsten Zusammentreffen den anderen als Erster mit »Guten Morgen, Vielliebchen« begrüßt, hat gewonnen und darf sich auf ein kleines Geschenk des Verlierers freuen. Dieses Geschenk wird zuweilen ebenfalls Vielliebchen genannt. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass mit der genannten Storm-Ausgabe eine solche Wettschuld aus einem Vielliebchen-Essen beglichen wurde.

Varianten des Wortes Vielliebchen sind laut Grimm’schem Wörterbuch (Leipzig 1854 ff.) auch im Französischen, Englischen und in den skandinavischen Sprachen bezeugt. Und in den Ländern, wo das Wort gebräuchlich ist, kennt man auch die damit verbundene Sitte des Vielliebchen-Essens.

In der Literatur, besonders der des 19. Jahrhunderts, ist das Vielliebchen ein beliebtes Motiv. Als zwei zusammengehörende Teile eines Ganzen symbolisiert das Vielliebchen die untrennbare Einheit zweier Liebender. Besonders deutlich wird dies in einem Gedicht von Franz Grillparzer aus dem Jahr 1823, das er dem Brauch des Vielliebchen-Essens gewidmet hat und mit dem er – so nimmt man an – eine Schuld aus einem solchen Wettspiel bezahlt hat. In dem Gedicht mit dem Titel »Die Viel-Liebchen (Philippchen) der Doppel-Mandel« heißt es beispielsweise: »Zwei in einem, eins in zweien, / Als ein Sinnbild wahrer Liebe, /Als ein Symbol von fester Treu.« Wird das Vielliebchen getrennt, bleibt doch die Einheit bestehen und die zwei Menschen sind fortan wie durch eine höhere Macht aneinander gebunden: »Und da stehn die beiden Menschen, / Sehen tief sich in die Augen, / Fühlen stark sich angezogen, / Wissen nicht, wie das geschehn, / Können nimmer sich verlassen, / Müssen fürder einig gehn.«