Von »Szene« bis »postfaktisch« – Die »Wörter des Jahres« 1977 bis 2016
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Jochen A. Bär/Jana Tereick (Hrsg.):
Von »Szene« bis »postfaktisch« – Die »Wörter des Jahres« der Gesellschaft für Sprache 1977 bis 2016
Hildesheim: Georg Olms Verlag, 2017 (= Reihe Thema Deutsch, 14)
412 Seiten, ISBN: 978-3-487-15625-5
In diesem Band werden alle knapp 400 bisherigen Jahreswörter ausführlich erläutert. Nicht nur Wortbildung und Bedeutung werden erklärt, sondern vor allem die Verwendungsweisen in Medien und Öffentlichkeit dargestellt. Ein Überblick über die Geschichte der »Wörter des Jahres« mit Statistiken zu Themen und Wortarten rundet das Ganze ab. Zusammen ergibt sich ein einzigartiger Streifzug durch 40 Jahre deutscher Zeitgeschichte – zum Nachschlagen oder einfach zum Schmökern.
Als 2003, herausgegeben von Jochen A. Bär, im Dudenverlag der Band Von »aufmüpfig« bis »Teuro«. Die »Wörter der Jahre« 1971–2002 erschien, war er innerhalb weniger Jahre vergriffen. Das Buch enthielt mehrere Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten der Jahreswörterwahl, die von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) regelmäßig kurz vor Weihnachten durchgeführt wird, sowie Erläuterungen aller 233 bis 2002 in die Ranglisten aufgenommenen Wörter. – Der nun von Bär zusammen mit Jana Tereick herausgegebene Band ist eine grundlegend umgearbeitete und aktualisierte Neuauflage. Er ist erschienen im Verlag Georg Olms, der die GfdS-Reihe Thema Deutsch von Duden übernommen hat, enthält neben den aktualisierten Glossen 140 neue, seit 2003 hinzugekommene Worterläuterungen, verzichtet allerdings aus Umfangsgründen auf die thematischen Beiträge. Anders als beim Vorgängerband beginnt die Dokumentation 1977. »Ausgespart wird damit eine erste Sammlung von Jahreswörtern für 1971, die fünf Jahre lang ohne Folgen blieb. Sie hat zwar die Idee zu der seit 1977 ohne Unterbrechung – 2016 zum 40. Mal – stattfindenden Auswahl geliefert, bildet aber keine Einheit mit ihr.« (S. VII)
Eine 26-seitige Einleitung von Jochen A. Bär gibt einen Überblick über Geschichte und Gegenwart der Jahreswörteraktion und benennt die Auswahlkriterien: Verwendung im allgemeinen Sprachgebrauch, Signifikanz für ein bestimmtes Jahr, gesellschaftliche Relevanz; keine notwendigen Kriterien sind Neuheit oder Verwendungshäufigkeit; gewählt werden können auch Mehrwortausdrücke bis hin zu vollständigen Sätzen (S. 7). Sie zeigt auch auf, dass der ursprüngliche Gedanke keineswegs der einer Rangliste war. Vielmehr handelt es sich bei der Dokumentation besonders charakteristischer Wörter eines Jahres um ein »›Nebenprodukt‹ der Sprachberatung« (S. 4): Fragen zur deutschen Sprache, mit denen die GfdS täglich zu tun hat, kann kompetent nur beantworten, »wer der sprachlichen Entwicklung auf der Spur bleibt, wer mit anderen Worten die Verwendung der Sprache durch die Sprachgemeinschaft aufmerksam beobachtet. Dies muss auf prinzipiell allen Ebenen des Sprachsystems geschehen, vom Laut- bzw. Schriftzeichen bis zum Satz und zum Text […]. In besonderer Weise auffällig ist der Wortschatz, da seine Veränderungen meist mit veränderten Realitäten oder mit einem veränderten Blick auf Realitäten zusammenhängen.« (Ebd.)
Vor diesem Hintergrund leuchtet es ein, dass die den Hauptteil des Bandes bildenden Erläuterungen der einzelnen Wörter 40 Jahre Zeitgeschichte beleuchten. In den Blick kommen internationale wie innenpolitische Konflikte, Skandale, humanitäre Katastrophen, Terrorismus, Wirtschaftskrisen, Naturereignisse, Umweltphänomene, ökologische Katastrophen, Entwicklungen in Technik, Kommunikation, Naturwissenschaft, Gentechnologie, Ereignisse in den Bereichen Kultur, Religion, Freizeit, Sport, Unterhaltung sowie Veränderungen im sozialen Miteinander und nicht zuletzt auch im allgemeinen Sprachgebrauch. Beispielhaft seien die beiden im Titel des Buches firmierenden Wörter Szene (»das« Wort des Jahres 1977) und postfaktisch (Platz 1 im Jahr 2016) genannt: Szene steht in besonderer Weise für den deutschen Herbst, den Höhepunkt des RAF-Terrrors; es machte in Komposita wie Terrorszene, Terroristenszene und Sympathisantenszene Schlagzeilen. Die Wahl des Kunstwortes postfaktisch »richtet das Augenmerk auf einen tiefgreifenden politischen Wandel« und »verweist darauf, dass es heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen ›die da oben‹ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der ›gefühlten Wahrheit‹ führt zum Erfolg.« (S. 265 f.)
Auf insgesamt 374 Seiten wird ein kommentierter Überblick über 362 »Wörter der Jahre« gegeben. 92 Autorinnen und Autoren haben mitgearbeitet, in der Regel mit einigen wenigen Beiträgen, teils aber auch mit nennenswerten Kontingenten. Vertreten sind sowohl Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler als auch Studierende der Universitäten Heidelberg, Hamburg und Vechta, an denen die Herausgeberin und der Herausgeber mehrfach Seminare zu den Wörtern des Jahres angeboten haben. Durch die jeweils etwa eine Druckseite umfassenden, zumeist sehr kurzweiligen Glossen erhält man einen Überblick über die Geschichte der Jahre von 1977 bis 2016 und macht spannende, aber auch kuriose Entdeckungen: Seit wann sind Geisterfahrer ein Thema? Wann war die Reichstagsverhüllung? Wer erinnert sich noch an den Elchtest, an Waterkantgate, an das Inline-Skating, an den Problembären, an die Wende? (Gemeint ist die Wende von 1982, nicht die von 1989.) Dem Allgemeinwissen tut es auch keinen Abbruch, dass nicht selten etymologische und/oder grammatikalische Erläuterungen gegeben werden: Sie sind für sprachlich interessierte Laien verständlich. Einzig, dass die »Wörter des Jahres« nicht nach Jahreszahlen, sondern alphabethisch angeordnet sind, erweist sich als unglücklich: Sucht man historische Orientierung, so muss man in der Liste »Die Wörter der Jahre: chronologisch« am Ende des Bandes (S. 409–412) nachschlagen. Wünschenswert gewesen wäre ein ausführliches Register, in dem auch diejenigen Ausdrücke verzeichnet sind, die zwar keine Jahreswörter waren, aber im Zusammenhang mit ihnen im Buch erwähnt werden. Es dürfte Umfangsbeschränkungen des Verlages zum Opfer gefallen sein: Mit seinen 412 Seiten ist der Band ohnehin erheblich stärker als die anderen Bände der Reihe Thema Deutsch.
Alina Stodollik