Ausgabe: Der Sprachdienst 3–4/2011

Wende

wendeWir befinden uns derzeit inmitten einer Zeit des Wandels: Wir erleben das Ende des Atomzeitalters, politische Parteien ändern ihren altgedienten Kurs, alternative Energien werden immer wichtiger, Nachhaltigkeit wird großgeschrieben.

Am häufigsten begegnet uns daher wohl heute der Ausdruck der Energiewende, die vor allem seit der Katastrophe in Fukushima allenthalben Erwähnung findet (hierbei handelt es sich übrigens nicht um ein neues Wort, sondern begegnet uns schon seit beinahe 15 Jahren ab und an).

Und auf einmal schießen –wende-Komposita wie Pilze aus dem Boden: Wir lesen von der Atomwende, gar einer AtomKehrtwende, von einer Kurswende in der Kernenergiepolitik, einer Kehrtwende diverser politischer Parteien in der Energiepolitik, einem eigens für die Finanzierung der Energiewende eingerichteten WendeFonds, und Angela Merkel wird nunmehr als KehrtwendenKanzlerin bezeichnet, die mit ihrer Regierung so manches Wendemanöver ausführt.

Doch die Wende bleibt nicht auf den Bereich der Ökologie und Energiepolitik beschränkt: Der Ausdruck greift um sich und taucht vermehrt auch in anderen, gänzlich unverwandten Kontexten auf: So kämpft die EZB für eine Zinswende, um die Inflationsrate einzudämmen, Firmen überwinden ihr Tief durch eine Ertragswende, Nicolas Sarkozy macht in Bezug auf seinen Umgang mit der Affäre um Dominique Strauss-Kahn eine moralische Kehrtwende, Nigeria erlebt durch die Präsidentschaft von Goodluck Jonathan eine Zeitenwende, indem sie sich für grünen Strom entscheiden, machen Verbraucher eine private Kehrtwende, und ausgelöst durch den Dioxin-Skandal und die Ehec-Epidemie ereignet sich derzeit die Ernährungswende.

Eine Wende, so beschreiben es die Wörterbücher, ist eine einschneidende Veränderung, ein Wandel in der Richtung einer Entwicklung. In dieser Bedeutung scheint Wende eine Verkürzung des Wortes Kehrtwende zu sein. Die übertragene Bedeutung ergibt sich aus der wörtlichen Bedeutung, die oft im sportlichen Bereich auftritt: Eine Wende bzw. eine Kehrtwende ist eine halbe Drehung um sich selbst, man schlägt also eine gänzlich andere Richtung ein.

So verbreitungswütig wie heute war dieses Wort bisher nicht, sollte man denken. Doch tatsächlich stand die Wende mit der Bedeutung einer tiefgreifenden politischen Veränderung bereits im Jahr 1982 auf Platz 2 der Wörter des Jahres. Erst seit 1989 aber, dem Jahr, seit dem man mit Wende (ganz ohne Attribut) wohl vor allem die deutsch-deutsche Vereinigung verbindet, findet das Wort vermehrt Verwendung. Beispiele, in denen Wende nicht nur Teil eines Kompositums ist, sondern auch als Substantiv von einem näher bestimmenden Attribut begleitet wird, gibt es zuhauf. So standen die 90er Jahre im Zeichen einer regelrechten Wendewut (1992): Man las von AsylKehrtwende (1992), tarifpolitischer Wende (1992), Ergebniswende (1993), wohnungspolitischer Wende (1993), Verkehrswende (1995), Wohlstandswende (1996), Politikwende (1997), Beschäftigungswende (1997) und so fort: Insgesamt machten sich so einige Trendwenden bemerkbar, und folglich wurde die Wende zu einem der 100 Wörter des 20. Jahrhunderts gewählt.

Ende der 90er Jahre war dann die Rede von der Jahrtausendwende, die auf einer weiteren Bedeutung von Wende basiert, nämlich dem Übergang von einem Zeitabschnitt zum nächsten. 2001 wurde die Agrarwende auf Platz 8 der Wörter des Jahres gewählt, und interessanterweise war im Jahr 2007 statt vom mittlerweile fest im Wortschatz verankerten Klimawandel von einer Klimawende zu lesen. Insgesamt jedoch schienen –wende-Komposita in den letzten zehn Jahren rückläufig gewesen zu sein. Heute entfalten sie sich wieder zu voller Blüte, und es bleibt abzuwarten, welche Wenden wir weiterhin erwarten dürfen.

Frauke Rüdebusch