Wer wird denn gleich das Beil in den See werfen?
Die Überschrift dieses Textes enthält eine Redewendung, und die Frage bedeutet Folgendes, wenn man sie einmal ohne die Redewendung formuliert: ›Wer wird denn gleich eine Sache verloren geben/aufgeben?‹ Höchstwahrscheinlich wird den Leserinnen und Lesern die Redewendung in der Überschrift sofort vertrauter vorkommen, wenn man das Beil durch eine Flinte und den See durch das Korn ersetzt. Tatsächlich werfen wir im Deutschen nämlich keine Beile in Seen, sondern Flinten ins Korn, wenn wir eine Sache verloren geben.
Nun gibt es diese Redewendung in der angegebenen Bedeutung in sehr vielen Sprachen. Das Bild, das benutzt wird, ist auch in etwa immer das gleiche. Nur darin, was genau wohin geworfen wird, unterscheiden sich die Sprachen. Es sind die Schweden, die das Beil in den See werfen (»kasta yxan i sjön«). Die finnischen Nachbarn werfen auch ein Beil, aber nicht in den See, sondern in den Brunnen (»heittää kirveensä kaivoon«). Überhaupt werden in den europäischen Sprachen viele Beile oder Äxte geworfen. Im Französischen wirft man die Axt nicht im Ganzen weg, sondern den Griff der Axt hinterher (»jeter le manche après la cognée«). Geradezu gewohnt gemäßigt und verkleinernd verfährt das Niederländische: Statt eines Beils gibt es in der Redewendung ein Beilchen (bijltje), das auch nicht geworfen, sondern lediglich niedergelegt wird. Spanisch und Englisch scheren ein wenig aus, indem sie ein Seil in den Eimer werfen (»echar la soga tras el caldero«) bzw. einen Schwamm (»throw up a sponge«), wobei manches wohl eher der deutschen Redewendung »das Handtuch werfen« entspricht.
Daneben gibt es einige Sprachen, in denen es keine vergleichbare Redewendung zu geben scheint. Für das Portugiesische gibt es nur das Kapitulieren im Sinne der Redewendung, im Russischen kann man umgangssprachlich »alles wegwerfen« und im Ukrainischen »die Waffen strecken«.
Auffällig ist in dieser Zusammenstellung, dass das Deutsche mit der geworfenen Handfeuerwaffe ziemlich allein auf europäischer Flur ist, wo gemeinhin mit altertümlicheren Waffen und Werkzeugen geworfen wird. Tatsächlich ist die Redewendung auch schon im Lateinischen belegt, die alten Römer warfen – geradezu erwartungsgemäß – eine Lanze (»hastam abicere«). Auch im Kroatischen ist es die Lanze, die hier ins Gestrüpp geworfen wird (»bạciti kọplje ụ trnje«)
Esten und Tschechen leisten uns in sprachlicher Hinsicht beim Flintenwerfen Gesellschaft. Tschechen werfen sie in den Roggen (»hodit flintu do žita«) die Esten in den Busch (»püssi põõsasse viskama«). Gesamteuropäisch besteht also im Bereich der Redewendung weit gehende Einigkeit bei der Wahl des Bildes, wenn auch nicht der Waffen. Wenn die Einigkeit sich auch auf etwas konstruktivere Tätigkeiten als das Werfen von Flinten, Beilen, Äxten und Lanzen in Korn, See und Gestrüpp ausweitet, dann ist die Idee eines geeinten Europa auf einem guten Weg.
Nicola Frank