29. November 2019
GfdS wählt »Respektrente« zum Wort des Jahres 2019
Die Wörter des Jahres 2019
- 1. Respektrente
- 2. Rollerchaos
- 3. Fridays for Future
- 4. Schaulästige
- 5. Donut-Effekt
- 6. brexitmüde
- 7. gegengoogeln
- 8. Bienensterben
- 9. Oligarchennichte
- 10. Geordnete-Rückkehr-Gesetz
Das Wort des Jahres 2019 ist Respektrente. Diese Entscheidung traf am Mittwoch eine Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden. Das Wort bezeichnet die Einführung einer Grundrente für Personen, die 35 Jahre erwerbstätig waren und dennoch eine Rente unterhalb des Existenzminimums beziehen. Aus sprachlicher Sicht handelt es sich um die Neubildung eines Hochwertwortes in der politischen Debatte, die der Selbstaufwertung durch Fremdaufwertung dient. Es gehe bei dem Projekt nicht ausschließlich um einen Beitrag zur Bekämpfung von Altersarmut, so der Bundesarbeitsminister, sondern vor allem um Respekt, die »Anerkennung der Lebensleistung«.
Auf Platz 2 wählte die Jury Rollerchaos. Thematisiert wurde mit diesem Wort die 2019 erfolgte Zulassung von mietbaren E-Rollern. Diese entwickelten sich in vielen deutschen Städten rasch zu einem Problem, da sie häufig rücksichtslos und verkehrswidrig benutzt und unkontrolliert überall abgestellt werden.
Der Anglizismus Fridays for Future (Platz 3), ein Wort im weiteren Sinne, steht wie kein anderer Ausdruck für eine junge Generation, die bereit ist, für ihre Zukunft auf die Straße zu gehen. Die vielerorts freitags zur Schulzeit stattfindenden Demonstrationen, hauptsächlich mit dem Ziel, auf die Gefahren des Klimawandels aufmerksam zu machen, waren eines der beherrschenden Themen des Jahres 2019.
Mit der Neubildung Schaulästige (Platz 4), einer originellen Zusammenziehung aus schaulustig und lästig, bezeichnete eine Rundfunkmoderatorin des Senders SWR 3 die Gaffer an einer Unfallstelle. Das Wort wurde vielfach aufgegriffen; es steht für die immer mehr zum Problem werdenden Behinderungen von Rettungsmaßnahmen durch Voyeure.
Die Zusammensetzung Donut-Effekt (Platz 5), ein schon in früheren Jahren anzutreffendes Wort, war 2019 häufiger zu lesen. Es bringt die Tatsache auf den Punkt, dass zwar immer mehr Wohnraum entsteht, aber zu viel davon an den Stadträndern, hingegen zu wenig in den Innenstädten, was zu deren Verödung führen kann: Wie bei einem Donut-Gebäck ist in der Mitte ein Loch.
Der kein Ende nehmende Austritt Großbritanniens aus der EU, insbesondere die Berichterstattung über Debatten im Unterhaus und Abstimmungsniederlagen der britischen Regierung, machte die Menschen in Deutschland zunehmend brexitmüde (Platz 6). Das einzige Adjektiv der 2019er Liste steht zusammen mit Brexit (2016, Platz 2) und Brexit-Chaos (2018, Platz 9) für ein Thema, das die Öffentlichkeit seit weit mehr als nur einem Jahr in Atem hält.
Die Bereitschaft, nicht alles ungeprüft hinzunehmen, bringt das Verb gegengoogeln (Platz 7) zum Ausdruck. Auch wenn sich durch Gegengoogeln ergibt, dass das Wort keine echte Neubildung ist, sondern seit etlichen Jahren verwendet wird, erschien es der Jury signifikant für ein Jahr, in dem der Kampf gegen falsche Informationen (Fake News) als Thema immer wichtiger wurde.
Platz 8 belegt der Ausdruck Bienensterben. Die Tatsache, dass durch Monokulturen und den großflächigen Einsatz von Pestiziden immer mehr Insektenarten vom Aussterben bedroht sind, ist seit längerem bekannt. Die Fokussierung auf die positiv wahrgenommenen Bienen war politisch erfolgreich: Aufgrund eines Volksbegehrens unter dem Slogan »Rettet die Bienen« musste die bayerische Landesregierung ein Gesetz zum Schutz der Artenvielfalt auf den Weg bringen. Weitere Bienenbegehren, etwa in Baden-Württemberg, aber auch europaweit, schlossen sich an.
Mit der Oligarchennichte (Platz 9) greift die GfdS-Jury ein Thema auf, das im Mai die Republik Österreich bewegte und auch in Deutschland für Schlagzeilen sorgte. Aufgrund der sogenannten Ibiza-Affäre, auch Ibizagate, musste im Mai 2019 der österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache zurücktreten. Publik geworden war, zunächst in bundesdeutschen Medien, ein inszeniertes, heimlich gefilmtes Treffen mit einer angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen im Juli 2017 auf Ibiza, bei dem Strache Bereitschaft zu ungesetzlichem Handeln hatte erkennen lassen.
Platz 10 belegt der Ausdruck Geordnete-Rückkehr-Gesetz. Er versucht den nur wenig sperrigeren Titel „Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ zu popularisieren. Aus Sicht der GfdS-Jury steht er für eine neuere Wortbildungsmode in der Politik, wobei das Schema »Adjektiv + Substantiv + Gesetz« (beispielsweise auch beim Gute-Kita-Gesetz) zu grammatisch nicht ganz unproblematischen Zusammensetzungen führt. Korrekt ist nur die Schreibung mit Bindestrichen; das Adjektiv lässt seine Endung unverändert: Geordnete-Rückkehr-Gesetz, nicht Geordnetes Rückkehrgesetz.
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Die Wörter des Jahres werden 2019 zum 43. Mal in Folge bekannt gegeben. Traditionell suchen die Mitglieder des Hauptvorstandes und die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GfdS nicht nach den am häufigsten verwendeten Ausdrücken, sondern wählen solche, die das zu Ende gehende Jahr in besonderer Weise charakterisieren.
Respektrente
Das Thema Altersarmut beschäftigt die deutsche Sozialpolitik seit vielen Jahren. Obwohl sie jahrzehntelang in die Sozialkassen eingezahlt haben, erhalten viele Menschen nicht genügend Rente, um davon leben zu können: Sie müssen zusätzlich Grundsicherung beantragen. Diese unterscheidet sich der Idee nach vom sogenannten bedingungslosen Grundeinkommen, das auch als Bürgergeld in der Diskussion steht; sie wird nur gezahlt, wenn kein anderes ausreichendes Einkommen zur Verfügung steht, und ist mit einer Prüfung der tatsächlichen Bedürftigkeit verbunden.
Eben daran entzündete sich 2019 ein Streit in der Großen Koalition. Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) hatte die Ansicht vertreten, wer 35 Jahre lang gearbeitet habe, müsse im Alter mehr Geld haben als jemand, der nie gearbeitet habe. Sein Vorschlag einer Rente oberhalb der Grundsicherung war mit dem Anspruch einer »Anerkennung der Lebensleistung« verbunden (Zeit, 6. 2. 2019). Daher war die Rentenanpassung pauschal für all diejenigen gedacht, deren Einkommen so gering ist, dass ihre spätere Rente das Existenzminimum nicht erreichen wird. Dies war dem Koalitionspartner CDU/CSU und auch einigen Oppositionsparteien zu teuer: Sie plädierten für die Bedürftigkeitsprüfung, wie sie der Koalitionsvertrag ursprünglich auch vorsah: »Ohne solche Prüfung bekämen auch jene Grundrente, die mit ihrem Partner in einer Villa wohnen und jahrelang nur nebenher gearbeitet haben.« (Tagesspiegel, 6. 11. 2019.)
Das DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach hielt dagegen: »Die Grundrente soll dafür sorgen, dass Menschen, die zu geringen Löhnen gearbeitet haben, im Alter nicht in die Grundsicherung rutschen. Sie steht für Respekt vor der Lebensleistung von Menschen, die lange gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben. Wir können diese […] doch nicht zum Sozialamt schicken oder leer ausgehen lassen. Das wäre das Gegenteil von Respekt.«
Schließlich setzte die SPD den Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung durch und feierte das als »sozialpolitischen Meilenstein« (so die kommissarische Parteivorsitzende Malu Dreyer). Nach zähen Verhandlungen war der Weg frei für eine Grundrente, die um zehn Prozent über der Grundsicherung liegt. Ob es der SPD bei künftigen Wahlen gedankt und ob die Respektrente dabei eine Rolle spielen wird, muss sich zeigen. Immerhin tritt dieser Ausdruck, der die besondere Fähigkeit der deutschen Sprache vor Augen führt, durch Zusammensetzung von Wörtern nahezu unbegrenzt neue Wörter zu bilden, und der durch das binnenalliterierende r, das vierfache e ohne andere Vokale und durch die Betonungsengführung in Silbe zwei und drei lautlich auffällig ist, erkennbar als Hochwertwort auf. Das Substantiv Respekt (›Achtung, Hochachtung, Ansehen‹), das von dem lateinischen Verb respicere abgeleitet ist, wörtlich also mit ›Rücksicht‹ zu übersetzen wäre, versucht eine Selbstaufwertung durch Fremdaufwertung: Wer bereit ist, anderen Respekt entgegenzubringen, insbesondere denen, die sich selbst nicht hinreichend respektiert fühlen, macht sich, so ist anzunehmen, bei diesen selbst respektabel – oder zumindest wählbar.
Demgegenüber eignet sich das sachlich entsprechende Wort Grundrente mit dem dunklen u und seiner weitaus unaufgeregteren Nebenbedeutung viel weniger zum politischen Kampf- und Werbebegriff. Erst in lautlich passender Umgebung – Mehr Gerechtigkeit durch die Grundrente! (www.spd.de/aktuelles/grundrente, 13. 11. 2019) – wird es so etwas wie sloganfähig.
Jochen A. Bär