Geschlechtergerechte Sprache im Russischen

Von Alla V. Kirilina

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Gekürzte Fassung

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Kurzfassung des gleichnamigen Beitrags im Sprachdienst 1–2/2020, einem Themenheft zur Problematik der geschlechtergerechten Sprache. Hier geht es zum Inhaltsverzeichnis.

Sie können dieses Heft über uns beziehen oder eine Kopie des vollständigen Aufsatzes bestellen. Beides ist sowohl als Printversion als auch digital als PDF erhältlich.

Ich danke dem Sprachdienst für die Einladung zum Forum und finde, sie kommt gerade zur rechten Zeit.

Bei der allseitigen Besprechung einer gendergerechten Sprache müssen m. E. drei wichtige Probleme angeschnitten werden:

1. Die Eigenschaften der jeweiligen Sprache

Das Sprachsystem und das Inventar der Mittel zum Ausdruck des Geschlechts/des Gender sowie der Usus, den eine Sprache entwickelt und der nicht immer mit den von Wissenschaftlern erdachten Richtlinien zur sprachlichen Gleichberechtigung in Einklang kommt; sehr wichtig wären auch die Auswertung der Ergebnisse der gendergerechten Sprachreformen und eine Analyse der Gebräuchlikeit von einzelnen Reformvorschlägen in den Sprachen, die seit mehreren Jahrzehnten die sprachliche Gleichbehandlung betreiben.

Die Genderlinguistik in Russland hat ziemlich viele Forschungsergebnisse: Vor allem die Idee der ungleichen Androzentrizität von Sprachen und Kulturen ist ausgesprochen worden. Obwohl der Androzentrismus jeder der bekannten Sprachen eigen ist, unterscheiden sich die Sprachen durch den Grad des Androzenrismus, deshalb können genderbezogene PC-Vorschläge nicht unkritisch aus einer Sprache in die andere übertragen werden.

Ein verheißendes Thema sind die Sprachkontakte und ihr Einfluss auf den Genderaspekt der Sprache. Hier bemerken wir nun kurz, dass das völlig neutrale Wort люди (Leute) unter dem Einfluss des Englischen durch »мужчины и женщины« (Männer und Frauen) verdrängt wird.

2. Historische und kulturelle Besonderheiten des betreffenden Landes sowie – besonders in den letzten Jahrzehnten – naturwissenschaftliche, medizinische und biologische Durchbrüche (z. B. EKO) und deren sprachliche Konzequenzen

Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde die Gleichberechtigung erklärt (1918), und viele institutionelle und öffentliche Texte erfuhren eine Revision. Z. B. wurden aus den Wőrterbüchern viele frauenfeindliche Sprichwörter ausgeschlossen. Es gab auch einen Versuch, Sprichwörter zu prägen, die die neue soziale Realität widerspiegeln. An die Frauen appellierten u. a. die Zeitungen (z.B. Женщина-пролетарка, wörtlich: ›weibliche Proletarierin‹) und ein spezieller Diskurs, dessen Ziel es war, die Frauen in den Arbeitsprozess  einzubeziehen und die sogenannten Männerberufe beherrschen zu lassen. Ohne jeglichen feministischen Diskurs und überhaupt ohne Diskussion bestanden im institutionalen Sprachgebrauch Splittingformen wie тетрадь ученика(-цы) (Heft des Schülers/der Schülerin), родился (-лась) (geboren männlich/weiblich).

In den postsowjetischen Jahren wurden unter dem Einfluss des westlichen Feminismus manche Vorschläge zur Gender-Expertise der öffentlichen Texte erarbeitet und die Lehrbücher für ABC-Schützen einer Gender-Expertise unterzogen. Unter anderem stellte es sich heraus, dass frauenfeindliche Kontexte (und Bilder/Illustrationen) eine bedeutend größere Rolle spielen als Maskulina in der generischen Bedeutung. Zum gleichen Schluss hat auch unsere Untersuchung der Zeitung Komsomolskaja prawda (1996–1998) geführt.

Heute gibt es in der Russischen Föderation zwei Trends – das globalistische Konzept des Geschlechts als multiples, non-duales Phänomen und – als Gegentrend eine Renaissance fundamentalistischer Patriarchatmodelle des Geschlechts, die auch durch religiose Institutionen gefördert werden. Die beiden Tendenzen haben sprachliche und diskursive Folgen.

3. Politische Faktoren

Die Gleichberechtigungsleistungen der Sowjetzeit werden ignoriert. Durch die wachsende Genderformenanzahl (heute registriert die wissenschaftliche Beschreibung etwa sechzig Formen: Otherkin, Agender, Bigender, Transgender usw.) stellt die Gender-Spezifik der politischen Korrektheit eine wohl viel zu starke Herausforderung für die Kommunikation dar, was die Kollision von der PC und der Sprachökonomie verursacht. Mit der Sprachökonomie zusammen sei noch der Usus und die Sprachkreativität »von unten« erwähnt, die wohl manche Lösung bieten könnte.