Pluralformen von Abstrakta
[F] Ist es korrekt, wenn abstrakte Bezeichnungen wie Verkehr und Bedarf in den Plural gesetzt werden, z. B. Verkehre und Bedarfe? Ist die Beobachtung richtig, dass solche Formen in den letzten Jahren häufiger benutzt werden?
[A] Ihre Beobachtung ist richtig. Es gibt hie und da besondere Pluralformen, die zwar nicht allgemein üblich, wohl aber in besonderen Fällen, besonders fachsprachlich, mitunter auch poetisch, hervorgebracht und gebraucht werden.
Das entscheidende Kriterium der grammatischen Pluralbildung ist ja die Zählbarkeit, das heißt, Substantive sind nach dem Numerus, also Singular bzw. Plural, bestimmt. Mitunter kommt es also, wenn man, wie es in den Grammatiken heißt, »Stoffarten« sprachlich realisieren will, zu eigenartigen, seltenen und sonst ungebräuchlichen Pluralformen, die ihre Berechtigung aber dann haben, wenn Konkretion und Differenzierung nach Detail und Einzelheit, wenn Zählbarkeit in Betracht kommt. Schon vor Jahren sind wir auf die Bildung Zahnersätze aufmerksam gemacht worden, und wenn es um bestimmte, konkret vorhandene Formen und Arten von Zahnersatz geht, also etwa um Kronen, Brücken, Implantate, ist die pluralische Form Ersätze, Zahnersätze nicht unangebracht; hierzu ein aktuelles Beispiel: »Die Zahnersätze in der Schweiz finden Sie mit nur 2 Mausklicks auf Swissportail.« In Analogie ist an Gebiss – Gebisse im Sinne von ›künstliche Zähne, Prothesen‹ zu denken.
Es gibt eine ganze Reihe weiterer Beispiele; zwei nennen Sie bereits, andere sind beispielsweise Betone, (die) Eisen, Milche, Sande, Stähle, Unkräuter, Wässer, Zemente. In anderen Fällen wieder ergänzt man, um von dem allgemein bzw. abstrakt gebrauchten Ausdruck zum konkret und zählbaren Substantiv zu kommen, mit einem entsprechenden und geeigneten anderen, so z. B. Fleischsorten, Fleischwaren, Mehlarten, Holzarten (neben Hölzern). Siehe G. Helbig/J. Buscha, Deutsche Grammatik, 2001, S. 252; Duden-Grammatik, 2005, §§ 265–267 (»Sortenlesart«).
In Band 9 des Großen Dudens, Richtiges und gutes Deutsch wird zu dieser Frage ausgeführt: »Die begriffliche Differenzierung in vielen Lebensbereichen fördert diesen Prozess [der Pluralbildung]. Es entstehen Plurale, die sich aus dem Bestreben herleiten, bestimmte Sachverhalte kurz und ohne umständliche Umschreibungen auszudrücken. Dazu gehören insbesondere Plurale von Stoffsubstantiven und Abstrakta. Sie wurden und werden teilweise noch immer als nicht pluralfähig angesehen. Ihre Pluralformen dienen, häufig ausgehend von fachsprachlichen Verwendungen, vor allem zur Bezeichnung von Arten und Sorten: Betone/Betons, Blute, Elektrizitäten, Gersten, Hirsen, Milche[n], Verbräuche, Bedarfe, Zuwächse u. a.«
Diese Aussagen sind durchaus zutreffend und können anhand etlicher Verwendungsbeispiele, die man heute mittels einer Internetrecherche rasch ermitteln kann, bestätigt werden. Sie wirken, sofern sie einem neu und ungeläufig sind, zunächst fremd, doch wird bei Beachtung des Textzusammenhangs klar, dass ein besonderer Bezeichnungsbedarf besteht und dass ein allgemein – und vermeintlich nur – abstraktes Substantiv in bestimmten Fällen mit konkreter Bedeutung auftritt, mithin zählbar ist und in den Plural gesetzt werden kann.
Aktuelle Internetbeispiele aus der Tagespresse: »Und Dieselkraftstoff hat mit 35,3 Mega-Joule pro Liter eine höhere Energiedichte als Ottokraftstoff (32 MJ), was automatisch für niedrigere Verbräuche und damit einen geringeren Ausstoß des Klimagases CO2 sorgt«; »Vor allem die Nahrungsmittelindustrie treibe die Verbräuche nach oben«; »Nach Worten von Hochtaunus-Landrat Jürgen Banzer (CDU) ist die IVM der erste Versuch in Deutschland, um die unterschiedlichen Verkehre per Bahn, Bus, Auto und Lastwagen gemeinsam effektiver zu steuern«; »Steuerfreie Ersätze des Arbeitgebers für Tage der Familienheimfahrten (z. B. Dienstreiseersätze, Durchzahlerregelung) kürzen den abzugsfähigen […] Betrag«.
Die Registrierung und Beschreibung solcher Pluralformen in den Wörterbüchern zur Gegenwartssprache, namentlich Deutsches Wörterbuch (Wahrig, 2007) und Deutsches Universalwörterbuch A–Z (Dudenverlag, 2007), ist allerdings recht unterschiedlich.