Citizens sind keine Bürger
Großbritannien ist tief gespalten und entfernt sich von Deutschland, wie sich nun auch sprachlich zeigen lässt
Von Christophe Fricker und Cory Massaro
Inhalt
- Im Wahlkampf vor dem britischen EU-Referendum am 23. Juni 2016 traten zwei Lager gegeneinander an, die unterschiedlicher kaum sein konnten
- Ausgehend von diesem Begriff widmen wir uns im Folgenden den Vorstellungen von citizenship, die gegenwärtig den britischen Diskurs dominieren.
- Der moderne Staat will Gleichheit vor dem Gesetz gewährleisten
- Wir vermuten, dass sich diese Entfernung auf der Ebene von Konnotationen im Zuge des Brexits vergrößert
- Die Ergebnisse unserer Analyse bestätigen unsere Hypothesen
- Die semantische Situation in Deutschland unterscheidet sich sowohl vom englischsprachigen Gesamtbild als auch von den beiden politischen Lagern
- Abschließend möchten wir einige Schlussfolgerungen ziehen und zeigen, wo weitere Forschung nötig ist
I
Im Wahlkampf vor dem britischen EU-Referendum am 23. Juni 2016 traten zwei Lager gegeneinander an, die unterschiedlicher kaum sein konnten: »Remain«, die Befürworter des EU-Verbleibs, und »Leave«, die Gegner, vertraten fundamental unterschiedliche Vorstellungen von Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Gemeinschaft sowie Nation und Europa. Die Kampagnen von Remain und Leave lagen inhaltlich, aber auch strategisch, taktisch und stilistisch weit auseinander. Wenn zwei Gruppen so wenig gemeinsam haben, schlägt sich das auch sprachlich nieder.1 Nach der Abstimmung schaffte es die Regierung von Premierministerin Theresa May nicht, realistische Ziele der Austrittsverhandlungen zu artikulieren, konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und somit verschiedene Interessen miteinander zu versöhnen. Im Gegenteil: Die Maxime der Regierung wurde als leere Tautologie formuliert (»Brexit means Brexit«2), und der programmatische Verzicht auf einen »running commentary«3 führte dazu, dass niemand im Lande wusste, was das Verhandlungsteam der Regierungschefin eigentlich tat. Als der Entwurf des Austrittsabkommens vorlag, traten Minister zurück, Abgeordnete verließen ihre Partei und einfache Parteimitglieder verzweifelten, weil ihnen nicht klar war, inwiefern die 585 Seiten des Deals4 eine Interpretation früherer Versprechen darstellten. Führungsversagen und Sprachlosigkeit gingen jahrelang Hand in Hand. Theresa May verlor darüber nicht nur 32 Regierungsmitglieder in weniger als drei Jahren, sondern auch ihr Amt.
Die Sprachlosigkeit der Regierung May und die inhaltliche Unbestimmtheit der Aussagen von Oppositionsführer Jeremy Corbyn führten dazu, dass die gesellschaftliche Spaltung drei Jahre nach dem Referendum noch tiefer war als zuvor. Vertreter extremer Positionen schnitten bei den Europawahlen im Mai 2019 sehr gut ab, und Forderungen nach einem harten Brexit, einem zweiten Referendum oder nach dem Widerruf des Austrittsgesuchs, die lange utopisch schienen, dominierten den öffentlichen Diskurs, da kein Kompromissversuch eloquente und kluge Fürsprecher gefunden hatte.
Nicht jeder sieht die Spaltung der Gesellschaft als etwas Schlechtes. Populisten von Corbyn links bis Nigel Farage rechts stehen für eine Politik der Polarisierung. Allerdings mehren sich die Stimmen, die für Heilung und Versöhnung plädieren. Sie bringen Formen der deliberativen Demokratie ins Gespräch, vor allem die Citizens’ Assembly.5
II
Ausgehend von diesem Begriff widmen wir uns im Folgenden den Vorstellungen von citizenship, die gegenwärtig den britischen Diskurs dominieren. Wir fragen, wie citizen und weitere Begriffe für politische oder gesellschaftliche Akteure gebraucht werden. Wir wollen ihren semantischen Gehalt bestimmen, herausfinden, ob sie von den beiden Seiten der Europa- und Nationalismusdebatte unterschiedlich verwendet werden und, wenn ja, wie groß die Unterschiede sind, und wir wollen die Ergebnisse in Beziehung setzen zum deutschen Wort Bürger, das allem Anschein und allen Wörterbüchern nach das Äquivalent von citizen ist.
Wir halten eine solche Untersuchung für relevant: Die deutsch-britischen Beziehungen müssen nach dem Brexit neu bestimmt werden; diese Klärung bedarf einer von beiden Seiten verstandenen Sprache. Neue Demokratieformate werden auch in Deutschland diskutiert und erprobt; die Frage, wer sich wie und warum in einem Gemeinwesen einbringt, wird in der Krise neu verhandelt. Und mehrere Millionen Briten in Deutschland sowie EU27-Bürgerinnen und -Bürger im Vereinigten Königreich sehen sich mit einer Reihe von aufenthalts- und mitbestimmungsrechtlichen Fragen konfrontiert, aufgrund derer die genannten Themen für sie besonders dringlich sind.
Im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrzehnte haben wir im englischen Alltag die Beobachtung gemacht, dass der Begriff citizen, anders als im Deutschen Bürger, nur äußerst selten verwendet wird. Etwas häufiger ist von nationals bestimmter Staaten die Rede, aber im Regelfall verwendet man Demonyme (us Brits, the Germans, the bloody Irish), man spricht darüber, was in this country üblich ist und was the people tun. Besonders der letztgenannte Begriff oszilliert zwischen Volk, Bevölkerung und Menschen – die Unterscheidung ist im Deutschen stark markiert, wird im Englischen aber verschliffen. Hinzu kommt, dass country sowohl auf Schottland und Wales als auch auf Deutschland und Frankreich bezogen wird, also auf Teilstaaten wie auf Staaten. Viele gebildete Engländer erkennen hier auch auf Nachfrage keinen kategorialen Unterschied.
All dies lässt sich auf britische Rechts- und Staatstraditionen zurückführen. Der wesentliche politische Status war über Jahrhunderte die subjecthood; man war vor allem Untertan. Im Begriff national vermischen sich (ethnisch aufgefasste) Volkszugehörigkeit und gewohnheitsmäßiger Aufenthalt. Citizenship hingegen war bis 1981 vor allem eine Einwanderungsfrage: Wer nach Großbritannien einreisen und sich dort niederlassen durfte, hatte bestimmte politische, wirtschaftliche und soziale Rechte. Das Recht auf Einwanderung ging also nicht aus einer bestimmten Staatsangehörigkeit hervor, sondern es verhielt sich gleichsam umgekehrt. Das wiederum hieß, dass nicht jede Form britischer citizenship dazu berechtigte, sich dauerhaft in Großbritannien niederzulassen.
Eine systematische Kategorisierung von Einwanderungs- und Niederlassungsrechten fehlte lange Zeit, und im Grunde fehlt sie bis heute. Fragen der geographischen Herkunft, des gewohnheitsmäßigen Aufenthalts, der Abstammung sowie des landeskundlichen Wissens und der Sprachkenntnisse spielen wechselnde Rollen, und die konstitutionelle Unübersichtlichkeit des britischen Staatsgebildes mit seinen Überseegebieten und Kronbesitztümern sowie dem Commonwealth, dessen Mitgliedsstaaten nicht alle denselben Status besitzen, führt rechtlich, terminologisch und lebenspraktisch zu Verwirrung. Einflussreiche Gerichtsurteile halten fest, dass gesetzliche Definitionen nicht erschöpfend sind.6
Eine Reihe von Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsgesetzen sollte in den letzten Jahrzehnten für mehr Orientierung sorgen, Migration steuern und britisches Recht mit europäischem in Einklang bringen. Immer wieder forderte die Labour-Partei, Bürger- und Mitspracherechte in diesem Zuge zu berücksichtigen, während die Konservativen sich eher mit Zuzugskontrolle, Möglichkeiten der Ausweisung und hegemonial-kulturellen Zugehörigkeitsvorstellungen beschäftigten.7 Das ist auch heute noch so.
Unsere Untersuchung will klären, was die gängigen Begriffe für den politischen und sozialen Status von Menschen aktuell bedeuten. Der geplante Sprachvergleich macht es erforderlich, dass wir uns nicht nur über Wörter, sondern auch über »die Sache« verständigen. Wir müssen zumindest vorläufig darlegen, an welchen außersprachlichen Wirklichkeitsbereichen wir interessiert sind, um zu begründen, warum wir bestimmte Wörter analysieren und andere nicht. Prüfen wir also durch einen Blick auf Forschungsliteratur aus Politikwissenschaft und Ideengeschichte, ob der von Wörterbüchern vorgeschlagene Begriff Bürger eine Entsprechung zu citizen sein könnte.
III
Der moderne Staat will Gleichheit vor dem Gesetz gewährleisten, durch effektive politische Institutionen die Vertretung von Interessen ermöglichen und für ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl sorgen. Er benötigt somit eine Institution für das Recht von Menschen, die Rechtsordnung mitzugestalten und auf der Basis geteilter Werte gemeinsam Interessen zu artikulieren.8 Sie müssen ihre Meinung formulieren und diskutieren dürfen. Rechte werden ihnen nicht einfach zu- oder aberkannt.9 Mit anderen Worten: Zuallererst haben sie das Recht, ihre Rechte zu definieren. Diese Institution wird häufig citizenship und ebenso häufig Bürgerrecht bzw. Staatsbürgerschaft genannt.
Implizit sind damit drei Register dieser Institution angedeutet, die ein Gemeinwesen konkret ausformen muss: discretionary (Wer gehört dazu und wer nicht?), decisional (Welche Rechte und Pflichten hat jemand und wie vertritt er sie?) und allocative (Wie werden Güter und Besitz verteilt?).10 Diese Ausformung kann konfliktreich sein, und im Zuge der entsprechenden Auseinandersetzungen kann auch die Frage, wer dazugehört, welche Themen als Teil einer gesellschaftlichen Gesamtverantwortung gelten und wie Politik organisiert sein soll, neu gestellt werden. Fragen der Anerkennung und der Beteiligung werden gerade in Krisen problematisch. Rechte, Pflichten, Verantwortung und Praxis sind eng mit der Legitimität staatlicher Institutionen verwoben.
Ideengeschichtlich hat die Institution citizenship/Bürgerrecht/Staatsbürgerschaft drei Wurzeln: die griechisch-republikanische mit einem Schwerpunkt auf Beteiligungsformen und Sozialkapital; die römisch-liberale, die vor allem auf Rechte und Streitschlichtung abzielt; und die kommunitaristische, die Heimat und Wertegemeinschaft betont.11 Sie ist also, das sei nochmals hervorgehoben, nach allen gängigen Definitionen nicht nur eine Frage der Eintrittskarte. Wenn aber citizenship/ Bürgerrecht/Staatsbürgerschaft auch mit der Übernahme von Verantwortung zu tun hat, sollte es nach Meinung vieler möglich sein, wesentliche Mitwirkungsrechte auf eben diesem Wege zu erwerben.12 Die Definition eines citizen bzw. Bürgers führt damit fast automatisch zur Frage danach, was ein good citizen, ein ehrbarer Bürger ist.
Die Europäische Union als einzige supranationale Organisation und als grenzüberschreitende Lebenswirklichkeit ist der Ort, an dem diese Thematik neu konzipiert werden muss. Entsprechende Bemühungen stocken seit Jahren, und der Brexit zeigt, dass diese Unentschiedenheit von vielen als unbefriedigend wahrgenommen wird. Es gibt keine verbindende und verbindliche Vorstellung, was European citizenship/Unionsbürgerschaft sein könnte.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass nur eine Teilbedeutung des deutschen Begriffs Bürger als Äquivalent für citizen in Frage kommt.13 Mit Bezug auf das (Bildungs-, Besitz-)Bürgertum spricht man in England von middle class. Diese konnte zwar, wie das deutsche Bürgertum, im Laufe der Jahrhunderte Mitbestimmungsgewinne verzeichnen, doch hat das nicht zu einem Verschwinden von Distinktionsmechanismen und in den vergangenen Jahrzehnten auch nicht mehr zu einem Gewinn an sozialer Mobilität geführt. Die Kategorie class wird auch nicht durch den Verweis auf die Nationalität überwölbt, wie es beim deutschen Staatsbürger möglich ist, sondern vielfach als entscheidende Bezugsgröße für die eigene soziale Verortung wahrgenommen.
Der andere Teil der Bedeutung von Bürger kennzeichnet jemanden, der politische Rechte besitzt und wahrnimmt, die Gesellschaft mitgestaltet und eine Form des Miteinanders schafft, die auf der Basis gemeinsamer Werte die befriedigende Lösung drängender Probleme ermöglicht. Institutionen wie Markt, Öffentlichkeit, Verfassung und Parlament dienen diesen Zwecken. Die so verstandene Form der Bürgerlichkeit bedeutet zwar letztlich auch die Universalisierung zunächst in einer bestimmten sozialen Schicht verankerter Vorstellungen und Praktiken, ist in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland aber durchaus gelungen. Wichtig ist, dass dazu auch die bewusste Überwindung nationalistischer Beschränktheit und die positive Bezugnahme auf andere Nationen – die europäischen Nachbarn – gehörte. (Abgeschlossen oder konzeptionell oder lebenspraktisch alternativlos ist der Prozess natürlich nicht.) Es bedürfte einer ausführlicheren Untersuchung, um festzustellen, in welchem Maß Großbritannien an den relevanten Einrichtungen einer transnationalen Zivilgesellschaft beteiligt ist. Zweifellos gehört zum Brexit aber, von zahlreichen von ihnen Abstand zu nehmen. Citizen und Bürger liegen also ohnehin weiter auseinander, als Wörterbücher das erahnen lassen.
IV
Wir vermuten, dass sich diese Entfernung auf der Ebene von Konnotationen im Zuge des Brexits vergrößert und dass sich auch die Konnotationen des Wortes citizen in England entlang soziopolitischer Bruchlinien ausdifferenziert haben. Angesichts der oben genannten Relevanzkriterien sehen wir hier ein Konfliktpotenzial, das im Folgenden empirisch untersucht werden soll.
Unsere Daten stammen aus den nachstehenden Medien: Auf der Leave-Seite haben wir die Webseiten von Daily Mail, Express, Sun und Telegraph sowie Brexit Central ausgewertet, auf der Remain-Seite Guardian, Mirror, Irish Times, Irish Sun sowie People’s Vote. (Die beiden irischen Titel haben wir auch separat ausgewertet; wo die Ergebnisse signifikant von den britischen Medien abweichen, weisen wir darauf hin.) Insgesamt umfasst dieses Korpus 14 957 382 Wörter aus der Zeit zwischen dem 1. Januar und dem 10. Mai 2019. Auf deutscher Seite haben wir Bild, F.A.Z., Junge Freiheit, Junge Welt, Spiegel, Süddeutsche Zeitung, taz und Die Zeit ausgewertet. Das deutsche Korpus umfasst 9 207 351 Wörter aus der Zeit zwischen dem 1. Januar und dem 16. Juni 2019.
Wir verwenden das word2vec-Modell,14 um latente Wortbedeutungen im syntaktischen Kontext zu untersuchen. Die durch das Modell generierten semantischen Repräsentationen nennt man »Einbettungen« (»embeddings«). Sie liegen als Vektoren vor. Einbettungen werden für jeden Untersuchungsschritt neu generiert. Die von word2vec erzeugten Einbettungen haben die Eigenschaft, dass zwei Wörter, deren Einbettungen im Vektorraum des Modells nahe beieinander liegen, einander auch semantisch nahe sind. Mit anderen Worten: Anstatt zu untersuchen, welche Wörter in einem bestimmten Medium verwendet werden und in welchen Kontexten sie vorkommen, besteht unsere Methode darin zu modellieren, welche Wörter einander in der Art und Weise, wie sie verwendet werden, am ähnlichsten sind.
Ein Beispiel: Einbettung(Hund) liegt sehr nah bei Einbettung(Katze), etwas weiter entfernt von Einbettung(Echse) und sehr weit von Einbettung(indoktrinieren). Das Modell baut auf der relativen Häufigkeit auf, mit der Wörter in ähnlichen Kontexten (lineare Reihenfolge) vorkommen, ist also eine einfache Anwendung der distributionellen Hypothese. Insofern sind Wörter, deren Einbettungen nahe beieinander liegen, nicht im eigentlichen Sinn Synonyme (wie man am Beispiel oben erkennt); wir können aber sagen, dass sie im jeweils vorliegenden Material in ähnlichen Kontexten auftauchen. Daraus lässt sich ableiten, dass sie wichtige semantische Gemeinsamkeiten aufweisen. Ein weiteres Beispiel: In unserem Korpus liegen die folgenden Begriffe dem Wort Washington am nächsten – Moskau, Washington Post, Straßburg, Botschafter, Wladimir Putin, Präsident Donald Trump, Istanbul, Jerusalem. Einige sind Beinahe-Synonyme (Namen von Städten, die Sitz wichtiger politischer Institutionen sind), andere weisen darauf hin, dass Spitzenpolitiker und -beamte sich oft in Hauptstädten oder Metropolen aufhalten und dass deren Namen oder Funktionen und der Name der Stadt vielleicht sogar metonymisch füreinander einstehen können.
Noch weit aufschlussreicher ist folgender Umstand: Wenn der semantische Unterschied zwischen Wörtern als einfache Beziehung beschrieben werden kann, drückt sich der Unterschied zwischen zwei Wörtern, die derartig zueinander in Beziehung stehen, in dem mathematischen Unterschied zwischen den entsprechenden Einbettungsvektoren aus. Zum Beispiel wird die Beziehung »ist die Hauptstadt von« in der Differenz zwischen den Einbettungen von Berlin und Deutschland erfasst, die sich auf dieselbe Weise unterscheiden wie Teheran von Iran: Einbettung(Berlin) – Einbettung(Deutschland) = Einbettung(Teheran) – Einbettung( Iran). Mithilfe dieses Modells können wir also auch komplexere semantische Beziehungen auswerten.
V
Die Ergebnisse unserer Analyse bestätigen unsere Hypothesen: Die drei Korpora unterscheiden sich dramatisch voneinander. Remainer und Leaver sowie Briten und Deutsche haben fundamental andere Assoziationen, wenn es um die Rolle von Menschen innerhalb eines Gemeinwesens geht.
Betrachten wir zunächst einfache semantische Nähe – wir geben ein Wort vor und analysieren, welche anderen Wörter im Korpus diesem besonders ähnlich sind, welche Vektoren im Einbettungsraum also dem Vektor des Ausgangswortes am nächsten liegen. In den Remain-Medien ähnelt citizen Begriffen, die mit juristischen oder politischen Vorgängen zu tun haben (ruled, tribunal, dispute, anti-, activities, protesters), während der semantische Kontext auf der Leave-Seite spannungsgeladener ist (crimes, victims, bombings, explosion, suicide bombers, death penalty).
Wenn wir vom Wort British ausgehen, erkennen wir zwei Vorstellungen, die nur schwer miteinander vereinbar sind. Auf der Remain-Seite ist British mit einer ganzen Reihe pejorativer Begriffe verbunden (unacceptable, disaster, no clarity, catastrophe, shambolic) sowie mit Wendungen aus dem Bereich politischer Kompromisse und Blockaden (veto, negotiators, both sides, long extension). Unter Leavern dominiert die Sprache des Triumphs und des Auftrumpfens: restore, strengthen, supremacy, influence, potential. In den beiden ausgewerteten irischen Medien drückt sich große Unsicherheit aus: Mit provisions, rules, discussions, commission, protocol, committee, summit, treaty, arrangement, arrangements und legislation sind Begriffe vertreten, die auf Konfliktlösungsmechanismen und -foren hinweisen. Hinzu kommen drei Varianten der englischen oder gälischen Bezeichnung für das Karfreitagsabkommen.
Die Tiefe der Spaltung erkennt man, wenn man die Korpora zusammenführt. Im kombinierten Korpus liegt British nahe bei us; darüber hinaus gibt es nur noch Ethnonyme sowie Namen aus dem geopolitischen Bereich. British sind ein Ort und eine Gruppe von Menschen – aber eine genauere inhaltliche Bestimmung ist im Gesamtkorpus nicht erkennbar. Die beiden Seiten können sich nicht einigen. British ist entweder eine Ruinenlandschaft am Rande des völligen Zusammenbruchs oder ein starkes Volk. Eine Sprache des Kompromisses gibt es nicht.
Einig sind sich die beiden Seiten in Großbritannien allenfalls in der Sicht auf foreigners: Hier prägt eine Semantik der Gewalt und des Krieges das Bild. Foreigner hat mit suicide bombers und explosions zu tun; außerdem tauchen die Namen von Kriegsgebieten und Terrororganisationen auf. Das Bild von foreigners in den beiden ausgewerteten irischen Medien ist geringfügig positiver.
Wenden wir uns nun den Analogien zu. Erste Frage: British verhält sich zu people wie foreign wozu? Auf der Remain-Seite lautet die Antwort offenbar »zu einer Situation, in der Handlungsbedarf besteht und man sich informieren muss«, denn die Ergebnisse der Korpusanalyse sind unter anderem Teile von Webadressen, signatures und petition. Im Leave-Lager finden wir Begriffe, die mit Gesundheit bzw. Krankheit und mit Einkommensverhältnissen zu tun haben: identity, natural, society, cancer, planet, patients, lives, poor, spread, wealthy. Das sind keine Analogien im eigentlichen Sinn – die Wörter stehen nicht an derselben syntaktischen Position wie people; vielmehr lassen sie auf eine vergleichbare (aber unterschiedliche) Einstellung schließen: behutsames Engagement auf der einen Seite, Abschottung auf der anderen. Im irischen Korpus wird dagegen eine große Zahl positiver Adjektive sichtbar.
»British verhält sich zu people wie European zu …« macht eine weitere Bruchlinie sichtbar. Remainern zufolge handelt es sich bei Europäern um unterscheidbare Gruppen (generation, communities), von denen Großbritannien profitiert (doctors, opportunities, skills, business, our economy). Ein weiteres Feld besteht aus Wörtern, in denen sich Fürsorge für jene ausdrückt, die offenbar benachteiligt sind: wages, poorer, lack. Mit anderen Worten: Während die Briten people sind, lässt sich genauer bestimmen, was Europeans sind: Gruppen von Menschen, die wertvolle wirtschaftliche Beiträge leisten.
Auf der Leave-Seite ist das Bild weniger klar. Einige Begriffe lassen auf eine gewisse Abgrenzung schließen (history, culture, nation, proud, elite); Bezüge auf die heutige Rolle von Europäern in Großbritannien fehlen völlig. Die meisten Ergebnisse sind semantisch leere Funktionswörter (many, most). Eine Interpretation fällt schwer; man könnte mutmaßen, dass Leaver Europäer als irgendwie wichtige entfernte Verwandte sehen, die in ihrem Leben keine Rolle spielen.
VI
Die semantische Situation in Deutschland unterscheidet sich sowohl vom englischsprachigen Gesamtbild als auch von den beiden politischen Lagern. Bürger an sich ist nur schwach markiert: Viele ähnlich verteilte Begriffe haben mit Rechten (gewährleisten, Asylrecht, Sicherung), Aufgaben, Pflichten und Prozessen (regeln, durchsetzen, Organspende, Widerspruchslösung, Verpflichtung) sowie Grenzziehungen (national, ausschließen, Außengrenze, Gesetz) zu tun. Wir finden hier also alle drei Bereiche wieder, die wir im Rahmen unserer anfänglichen Definition identifiziert haben: Ein Bürger hat Rechte, er hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, und er gehört zu einer in gewisser Hinsicht herausgehobenen Gruppe.
Man könnte nun davon ausgehen, dass bei der Analyse der Formulierung englische Bürger eine Ergebnisliste entsteht, auf der beide Komponenten irgendwie vertreten sind, also Rechte und Pflichten einerseits und etwas zu Großbritannien andererseits. Tatsächlich sehen wir aber etwas ganz Anderes. Wir sehen, erstens, dass Briten offenbar sehr oft zitiert werden, denn unsere Nation liegt semantisch sehr nahe. Dann finden wir erstes Hilfspaket, Weltpolitik und Weltordnung, die alle auf die Zusammenarbeit im europäischen oder globalen Rahmen hindeuten. Mit heillos und Kollaps finden wir deutlich negative Begriffe, und in Verbindung mit bis vor Kurzem, Krise überstehen, bannen und keinen Ausweg erkennen wir offenbar Bestandteile eines Brexitnarrativs.
Diese Schwerpunktsetzung wird beim Blick auf die Formulierung britische Bürger noch deutlicher: Von den vierzig am ehesten ähnlich verteilten Begriffen haben dreißig mit dem Brexit zu tun: Übergangsphase, Austritts, beide Seiten, Handelsabkommen, Vereinbarung, Mitgliedsstaat, Abkommen, Verhandlung, Zollunion, Backstop, harter Brexit, Europäische Union, künftige Beziehung, Nordirland, Austrittsvertrag, Austritt Großbritanniens, aushandeln, Austritt, ohne Abkommen, Freihandelsabkommen, Einigung, Irland, verhandeln, Brexits, Hardliner, ratifizieren, Zugeständnis, Ausstieg, Grenzkontrolle (wir meinen, dass Europäische Union und Irland zum Wortfeld des Brexits gehören). Auffällig ist, wie viele Begriffe mit Diplomatie und Verhandlungen zu tun haben, also mit schwierigen Prozessen, bei denen Behutsamkeit geboten ist (sie alle werden vor allem in England als Deal wahrgenommen).
Und europäische Bürger? Die semantische Verwandtschaftsliste ist unauffällig: Mitgliedstaat, national, Außengrenze, Mitgliedsland. Nur wenige Begriffe sind wenigstens ansatzweise markiert: Stabilität, Befürworter, Forderung, einseitig, Ablehnung. Politische Aktivität, Mitwirkung, Verantwortung stehen hier wieder im Vordergrund. Mit anderen Worten: Europäische Bürger sind keine problematischen Austrittskämpfer, sondern Teilnehmer. Die Verteilung ähnelt dem Wortfeld, das sich bei der Analyse des einfachen Wortes Bürger ergeben hatte.
VII
Abschließend möchten wir einige Schlussfolgerungen ziehen und zeigen, wo weitere Forschung nötig ist. Am wichtigsten ist uns die Feststellung, dass sich die Bedeutung auch unscheinbarer Wörter dramatisch wandeln kann und dass auch scheinbar synonyme Wörter aus den eng verwandten Sprachen zweier befreundeter Länder konnotativ weit auseinanderliegen können. Das sollten wir in der interkulturellen Kommunikation berücksichtigen – statt womöglich leichtfertig zu unterstellen, dass »die Engländer« nichts von bürgerschaftlichem Engagement verstünden, wenn sie auf das Wort citizen nicht so reagieren, wie wir es erwarten, sollten wir in den diesbezüglichen Gesprächen unsere Wortwahl überprüfen. Gerade in Zeiten politischer Krisen ist es wichtig, nicht vorschnell in Nationalstereotype zu verfallen, wenn die Ursache von Missverständnissen auf lexikalischer (oder syntaktischer oder anderweitig grammatisch fassbarer) Ebene festzumachen ist.
Was die Verbindung zwischen politischer Theorie und distributioneller Semantik angeht, sind zwei Schlüsse möglich: Wir könnten annehmen, dass Konnotationen von citizen oder von Bürger anzeigen, was das Mitglied einer bestimmten politischen Gruppe tatsächlich auszeichnet. Dann müssten wir sagen, dass citizen und Bürger tatsächlich unterschiedlich sind. Oder wir könnten uns mit der Aussage begnügen, dass die Diskursteilnehmer offenbar davon ausgehen, dass ein citizen so und ein Bürger so ist. Welchen Schluss wir ziehen, hängt von sprachphilosophisch zu begründenden Annahmen ab, die wir hier aus Platzgründen nicht diskutieren können.
Schließlich noch eine Bemerkung zum Idiom – einem sprachlichen Konstrukt, dessen tatsächliche Bedeutung sich nicht aus seinen Einzelteilen herleiten lässt. Wer davon spricht, »einen Eiertanz aufzuführen«, wird nicht erst an Eier und dann an einen Tanz und dann an eine Aufführung denken. Wer ein Idiom, eine Redewendung, hört, hat in aller Regel dessen unreduzierbare Bedeutung vor Augen. In unserer Untersuchung haben wir festgestellt, dass europäischer Bürger kein Idiom ist, da sich die Bedeutung dieser Formulierung aus denjenigen von europäisch und Bürger herleiten lässt; dagegen ist britischer Bürger offenbar auf dem Weg zum Idiom. Wie es dabei vorankommt, wird die politische Entwicklung weisen.
Zu untersuchen ist nun in größerer Ausführlichkeit und im Bewusstsein der Dringlichkeit der Aufgabe, wie tief die Gräben sind, die die Differenzen zwischen den beiden ideologischen Lagern bereits hinterlassen haben, und was das für die sprachliche Dimension der deutsch-britischen Beziehungen bedeutet. Dafür werden wir Korpora auch aus anderen Kanälen, vor allem den sozialen Medien, auswerten und neben einzelnen Wörtern und Formulierungen auch umfangreichere Diskursformationen analysieren.
1 Vgl. Steve Buckledee, The Language of Brexit: How Britain Talked Its Way Out of the European Union, London 2018; Veronika Koller, Susanne Kopf und Marlene Miglbauer (Hgg.), Discourses of Brexit, London 2019.
2 Theresa May prägte diesen Satz in der Endphase des Wahlkampfs um den (De-facto-)Vorsitz der konservativen Partei am Vormittag des 11. Juli 2016.
3 Auch diese Formulierung wurde oft wiederholt. May prägte sie am 7. September 2016 im Rahmen des wöchentlichen Duells mit dem Oppositionsführer im Unterhaus (Prime Minister’s Questions).
4 Vgl. unsere Untersuchung auf www.christophe-fricker.com/future-relationship-impacted-byterms-agreement (zuletzt aufgerufen am 07.08.2019).
5 Vgl. Matthew Taylor und Riley Thorold, How would a citizens’ assembly on Brexit work?, 16.04.2019. Online abrufbar unter: www.thersa.org/discover/publications-and-articles/rsa-blogs/2019/04/brexit-assembly (zuletzt aufgerufen am 07.08.2019).
6 Vgl. Fiorella Dell’Olio, The Europeanization of Citizenship: Between the Ideology of Nationality, Immigration and European Identity, Aldershot 2005, S. 37 f.
7 Vgl. ebd., S. 38.
8 8 Vgl. Richard Bellamy, Dario Castiglione und Jo Shaw, Introduction: From National to Transnational Citizenship, in: Dies. (Hgg.), Making European Citizens: Civic Inclusion in a Transnational Context, Basingstoke 2006, S. 1–28, bes. S. 4–6.
9 Vgl. Richard Bellamy, The ›Right to Have Rights‹: Citizenship Practice and the Political Constitution of the EU, in: Ders. und Alex Warleigh (Hgg.), Citizenship and Governance in the European Union, London 2001, S. 41–70, hier S. 41.
10 Vgl. Bellamy, Castiglione und Shaw, Introduction, S. 5 f.
11 Vgl. ebd., S. 8; Richard Bellamy, Citizenship: A Very Short Introduction, Oxford 2008.
12 Vgl. Peo Hansen und Sandy Brian Hager, The Politics of European Citizenship: Deepening Contradictions in Social Rights and Migration Policy, New York 2012.
13 Vgl. Jürgen Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 9–10/2008, S. 3–9.
14 Tomas Mikolov, Kai Chen, Greg Corrado und Jeffrey Dean, Efficient Estimation of Word Representations in Vector Space, https://arxiv.org/abs/1301.3781.
Die Autoren
Dr. Christophe Fricker ist der Autor von »111 Gründe, England zu lieben«. Er berät Unternehmen und NGOs zum Verhältnis von Sprache und Gemeinschaft und unterrichtet Übersetzung und deutsche Zeitgeschichte an der University of Bristol. Von 2010 bis 2018 war er Geschäftsführer des Thinktanks Nimirum. Christophe Fricker ist Fellow der Royal Society of Arts.
Cory Massaro untersucht Fragen der Rhetorik und Poetik mithilfe datengestützter Techniken der natürlichen Sprachverarbeitung. Er studierte Creative Writing an der Duke University, Comparative Literature an der University of California, Santa Barbara und Computational Linguistics an der Brandeis University.