Ein kulturhistorischer Streifzug durch die Kriminalgeschichte
Zum Buch
Ernst Strouhal/Christoph Winder:
Eine Geschichte des Drohens und Erpressens. Ein kulturhistorischer Streifzug durch die Kriminalgeschichte
Brandstätter, 2017
224 Seiten, ISBN: 978-3-7106-0152-1
Sie kommen aus dem Dunkel der Anonymität und können zerstörerisch in das Leben eines Menschen eindringen: Droh- und Erpresserbriefe sind eine weit verbreitete und sehr spezielle Art der Korrespondenz. Hier wird erstmals das Phänomen der bösen Briefe und ihre weit zurückreichende Geschichte beleuchtet: Die Autoren analysieren die sprachlichen Strategien, mit denen die Opfer eingeschüchtert werden sollen, und nehmen Einblick in das verborgene Archiv dieses dunklen Teils der Briefkultur. Entlang von tragischen, aber auch komischen Beispielen beschreiben sie das Maskenspiel der Täter ebenso wie das Gegenspiel der Kriminalisten, welche ihnen mit immer neuen Methoden auf die Schliche zu kommen versuchen. Bebildert mit ungewöhnlichen Fundstücken entsteht so das Panorama einer Brief- und Verbrechensgattung, die heute besonders aktuell erscheint. Denn die bösen Briefe bilden das Vorspiel zu den Interneterpressungen und Hasspostings der Gegenwart.
Eine Textsorten-Geschichte ist fast immer interessant, zeigt sie doch zum einen den Sprachwandel, zum anderen aber auch kulturgeschichtliche Entwicklungen. Wenn sich nun zwei renommierte österreichische Autoren, Ernst Strouhal und Christoph Winder, des Erpresserbriefes annehmen, dann muss einfach ein gutes Buch über böse Briefe entstehen. Strouhal nämlich ist Träger des Österreichischen Staatspreises für Kulturpublizistik und Professor an der Wiener Universität für angewandte Kunst, Christoph Winder Journalist beim Wiener Standard. Somit ist klar: Den Leser erwartet keine linguistische Analyse der Textsorte, sondern eine kulturhistorische Beschreibung, die sehr viel Nicht-Sprachliches einschließt.
Erpresserbriefe und Drohschreiben sind keine Erfindung der Neuzeit, sie sind überliefert seit dem frühen 15. Jahrhundert und begegnen uns heute im Internet als Hasspostings. Mit bösen Briefen aus der Geschichte und Gegenwart zeigen die beiden Autoren – insgesamt haben sie zwischen 2 000 und 3 000 Briefe gesammelt –, dass die lange Historie der Textsorte auch eine Geschichte der materiellen Briefkultur und ihrer Aufschreibsysteme ist. So wurden diese Briefe lange Zeit handschriftlich gestaltet, es folgten Texte mit Wörtern oder Buchstaben, die aus Zeitungen herausgeschnitten worden waren. Diese Variante erscheint uns heute doch sehr antiquiert und ist auch für den Schreiber riskant. Die Kriminalistik hat sich schließlich weiterentwickelt. Die früher beliebte Schreibmaschine wird ebenfalls nicht mehr verwendet. Der Hinweis auf das »verschmierte e« existiert also nur noch in Kriminalfilmen. Auch Erpresser verwenden heute den PC; übrig bleibt die Sprache, um den Autor des Textes zu ermitteln.
Anonyme Briefe sind somit heute weitaus nüchterner gestaltet als früher. Strouhal und Winder bringen ältere Beispiele, in denen die Schreiber solcher Texte ihre Empfänger mit entsprechenden nichtsprachlichen Zeichen in ihrem Sinne zu bewegen versuchten. So wurden als verstärkende Momente der Drohung Totenköpfe und Ähnliches auf die Briefe gezeichnet. Heute spielen wohl bestenfalls Smileys eine Rolle.
Die angeführten Droh- und Erpresserschreiben sind nicht auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Das Buch bringt Fälle auch aus Japan und den USA. Hier sei nur die Entführung des Lindberg-Babys genannt. Auch Martin Luther King hatte 1964 einen anonymen Drohbrief erhalten, der ihn zum Suizid aufforderte, ansonsten würde man über seine Teilnahme an einer Orgie berichten. Thematisch stehen vor allem drei Gebiete der Erpressung im Fokus: die sexuelle, die politische und die Produkterpressung.
Einen breiten Raum nimmt die Sprache der Briefe ein; der Sprachwissenschaftler kann dem Dargestellten nur zustimmen. Erpresser sind »Heckenschützen der Kommunikation« (S. 46). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Drohbriefe in der Regel einem bestimmten Muster folgen. Sie unterscheiden sich in vielem kaum von einem Geschäftsbrief und scheinen nach den Normen der DIN 5008 verfasst zu sein. Wichtig ist nur, anonym zu bleiben, eine falsche Identität anzunehmen. Und da das Internet dazu viele Gelegenheiten bietet, hat sich die Anzahl anonymer Droh- und Erpresserbriefe vervielfacht, das Darknet ist hier die Bühne für viele Schreiber. »In seiner digitalen Form ist der anonyme Brief das ideale Medium für Gekränkte, die sich revanchieren, aber nicht in Erscheinung treten wollen.« (S. 203)
Es ist faszinierend, wie es den beiden Autoren gelungen ist, nach der Lektüre ihres zum Teil deprimierenden und schockierenden Materials ein solch wunderschönes Buch zu machen. Man möchte es nicht mehr aus der Hand legen, so fesselt es beim Lesen. Wissen wird vermittelt, ohne dass man auch nur einen Moment das Gefühl hat, belehrt zu werden. Dazu trägt auch die außergewöhnliche Gestaltung des Buches bei.
Unser Fazit: Jeder, der die Geschichte einer Textsorte schreiben will, sollte vorher dieses Buch lesen. Aber auch alle, die sich für Krimis, (Sach-)Buchgestaltung, Kulturgeschichte des Briefes und vieles mehr interessieren, werden ihre Freude an ihm haben. Dafür gebührt den beiden Autoren ein herzliches Dankeschön.
Ruth Geier