Ausgabe: Der Sprachdienst 2/2009

Was bedeutet der Ausdruck Fahrt ins Blaue?

[F] Wie ist aus Ihrer Sicht der Ausdruck Fahrt ins Blaue zu erklären? Im Internet gibt es einige Hinweise darauf, dass er mit dem früher weit verbreiteten Anbau von Flachs, der ja blaue Blüten trägt, zu tun hätte. Auch ein Führer auf der Marksburg behauptete dies. Doch das überzeugt mich nicht. Warum denn nicht eine »Fahrt ins Gelbe«, man denke an die im Frühling oft weithin mit gelb blühendem Raps bedeckten Felder, oder, naheliegender noch, »Fahrt ins Grüne«?

© CC-Lizenz

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[A] Gewiss, der Flachs oder Lein (der botanische Gattungsname ist Linum) ist eine alte Kulturpflanze, im Mittelalter weithin angebaut, und trägt blaue Blüten. Es gab auch seinerzeit, wie das Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens (Band V, 1932/33) mitteilt, den Volksglauben, dass, wer den Flachs aussät, eine blaue Schürze tragen müsse, doch wir stimmen Ihnen zu: Der Ausdruck Fahrt ins Blaue ist anders zu erklären, hat er doch vor allem die Bedeutung, eine solche Fahrt gehe ins Ungewisse, habe kein bestimmtes Ziel.

Lesen wir nach bei Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 1991: »Die seit 1933 vielfach in der Werbung der Reisebüros gebrauchte Wendung Eine Fahrt ins Blaue machen: eine Ausflugsfahrt mit unbekanntem oder ungenanntem Ziel unternehmen, ist an sich älter. Schon Zelter schreibt am 8. 9. 1829 an Goethe: ›weil ich den Tag noch nicht bestimmen kann und ins Blaue einfahre‹.« Weitere frühe Belege finden sich bei Wilhelm Raabe, Christoph Pechlin (1870/71)1 und bei Ludwig Ganghofer, Lebenslauf eines Optimisten (1909–1911)2.

Andere Lexika zur deutschen Gegenwartssprache und zu Redewendungen stimmen mit dieser Grundaussage überein – ›Vergnügungsfahrt, bei der das Ziel vorher nicht bekannt ist‹, blau steht für ›die unbestimmte Ferne‹ –, so z. B. Heinz Küpper in seinem Illustrierten Lexikon der deutschen Umgangssprache (Band 2, 1983), der als Bedeutung anführt: ›Fahrt mit unbekanntem (ungenanntem) Ziel‹. Dieser Autor datiert übrigens Fahrt ins Blaue als Werbemaßnahme früher als Röhrich, mit »1925 ff.« nämlich, eine vielleicht nicht ganz exakte Angabe, wie eine neuere Untersuchung dargelegt hat.3

Das Adjektiv blau wird seit alters nicht nur als deutliche Farbbezeichnung gebraucht (so z. B. auch blaue Flecken, mit blauem Auge davonkommen), sondern auch zur Bezeichnung des Ungefähren, Unsicheren, Unklaren und Ungewissen, schließlich des Nichtigen, der (lügenhaften) Vorspiegelung. Die Brüder Grimm haben im ersten Band ihres Deutschen Wörterbuchs (1854), ohne weiteren Kommentar, einige Beispiele gegeben: blauer dunst (»nebel, lügen, verdunklung der wahrheit«), blauer bericht, blaue märchen, blaue enten (»erdichtungen«, »lügen«); weiterhin heißt es: »ins blaue bedeutet ins weite, unabsehliche, ins nebelhafte«. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch (Band 4, 2001) bestätigt und ergänzt diesen Befund.

Die weitere Erklärung ist u. E. von der Farbpsychologie und Farbsymbolik zu erwarten. So gibt Knaurs Lexikon der Symbole (1998) diesen Hinweis: »In der mitteleuropäischen Volkssymbolik gilt das Blau als die Farbe der Treue, doch auch als des Geheimnisvollen (Märchen ›Das blaue Licht‹), der Täuschung und Unsicherheit (›blauer Dunst, ins Blaue hinein reden, die Fahrt ins Blaue‹)«, und die einschlägige anregungsreiche Monographie Eva Hellers Wie Farben auf Gefühl und Verstand wirken (München 2000) stellt Blau nicht nur als Farbe der Harmonie und Treue, der Sympathie und als »weibliches« Blau, »Madonnenblau«, als Farbe der Entspannung, der Sehnsucht dar, sondern auch als kalte, ja kälteste Farbe, als Farbe der Ferne und Unendlichkeit, gar als »Teufelsfarbe«. Jede Farbe ist mehrdeutig.4

Die Wendung Fahrt ins Blaue, mit anderen Worten, wäre also anhand der Bedeutungskomponenten ›Ferne‹, ›Unbestimmtheit‹, ›Ungewisses‹ zu erklären. Ein sinnlich-realistischer Bezug – wie ihn die Heinse-Stelle (s. Fußnote 4) zeigt – mag hineinspielen (aus der Ferne gesehen erscheinen Berge und Höhenzüge, zumal vor blauem Himmel als Hintergrund, eher dunkelgrün bis dunkelblau), doch scheint uns dies nicht den Ausschlag zu geben.


1 »Nimmer hatte eine Reisegesellschaft so sehr genug von einer schönen Gegend gehabt! Nimmer waren zween edlen Frauenseelen sämtliche historische Erinnerungen und Genüsse einer Landschaft so vollständig verleidet worden, wie diesmal und wie hier! Nimmer hatte sich ein königlich sächsischer Assessor außer Dienst und Ehemann in Diensten so vollgesogen an den Freuden und fröhlichen Abenteuern einer frei und auf eigene Gefahr und Rechnung, ohne die Frau, unternommenen Fahrt ins Blaue!«

2 »Und nun die Reise! Sie war bei mageren Taschen eine Fahrt ins Blaue und galt mir doch als Reise in eine Zukunft, in der ich schöne leuchtende Berge des Lebens sah. Wien! Ich liebte Wien von der ersten Stunde an, in der ich es sah. Es ist mir eine zweite Heimat geworden […].«

3 Margarete Kollmar, Mit der Reichsbahn ins Blaue. Eine populäre Tourismusform in den 1930er Jahren (Hövelhof 2005). Dort heißt es, der erste »Ausflugs-Sonderzug nach X« startete am 29. Juni 1932 vom Essener Hauptbahnhof, und zwar mit unbekanntem Ziel. Die Bahn hatte derlei Fahrten anfangs als »Reise nach X oder Y oder Z« angekündigt. Begleitende Reporter kreierten das zugkräftigere Motto »Fahrt ins Blaue«, was sich durchsetzte. (Nach der Rezension Joachim Eichlers im Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2007/III.) Noch heute werden von Reisebüros derlei Fahrten organisiert, wobei nicht im Zentrum steht, dass es sich um einen Ausflug in die Natur, womöglich im Frühjahr, handelt, hier nur ein Beispiel: »Schon wieder ist die Saison für den WIRO-Reiseklub beendet. Als Überraschung bieten wir auch in diesem Jahr eine ›Fahrt ins Blaue‹ an« (Internetbeleg) – angeboten wurde eine Fahrt im November!

4 Zwei literarische Beispiele, mit variiertem Wortlaut, aber mit ganz analogem Sinngehalt, seien zitiert: Friedrich Nietzsche, Die Sonne sinkt: »Rings nur Welle und Spiel./Was je schwer war,/sank in blaue Vergessenheit – müßig steht nun mein Kahn./Sturm und Fahrt – wie verlernt er das!/Wunsch und Hoffen ertrank,/glatt liegt Seele und Meer.« Wilhelm Heinse, Ardinghello und die glückseligen Inseln: »In der Tat lagern sich reizend die schön bewachsenen Hügel darum her, und die Tirolergebirge machen in blauer Ferne süße Augenweide.«