Höflichkeit

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Höflich zu sein, das lässt sich auf viele verschiedene Arten – und bei Weitem nicht nur verbal – bewerkstelligen. Höflichkeit drückt sich in der Art und Weise aus, wie wir uns begrüßen, ob wir unser Gegenüber ausreden oder jemanden an der Supermarktkasse vorbeilassen. Sich zu entschuldigen und Danke zu sagen ist höflich, genauso wie erst zu fragen, bevor man sich auf einen freien Platz im Zug setzt. Komplimente zu machen ist höflich und fremde Personen zu siezen ist es auch.

Wie man Höflichkeit zum Ausdruck bringt, fällt sprachwissenschaftlich betrachtet in den Bereich der Pragmatik, das heißt, es geht nicht um den semantischen Gehalt des Gesagten, sondern um die Handlung, die damit vollzogen wird. Bei der Begrüßung zum Beispiel ist ein »Grüß Gott« nicht so zu verstehen, dass tatsächlich Gott gegrüßt werden soll, stattdessen zeigt es an, dass man sein Gegenüber wahrgenommen hat. Die gewählte Grußformel drückt dabei aber nicht nur Kenntnisnahme aus, sondern verrät auch etwas über die Beziehung, in der die sich begrüßenden Personen zueinander stehen, und eventuell sogar, woher sie kommen. Menschen aus Norddeutschland werden wohl eher »Moin« als »Grüß Gott« sagen, gute Bekannte oder Freunde sagen »Hallo«, »Servus« oder »Hi«, zu einer fremden oder höhergestellten Person sagt man stattdessen eher »Guten Tag«. Und dann gibt es natürlich noch die nonverbalen Begrüßungsrituale wie Hände schütteln, winken, einander zunicken, Küsschen geben oder anlachen.

Man könnte sich jetzt fragen, warum wir den ganzen Aufwand überhaupt betreiben. Warum ist es wichtig, jemandem durch einen Gruß zu signalisieren, dass man ihn oder sie zur Kenntnis genommen hat? Warum fragen wir in der Bahn »Ist hier noch frei?«, wenn es doch offensichtlich ist, dass niemand auf dem betreffenden Platz sitzt? Warum wählen wir die wesentlich längere Formulierung »Könnten Sie mir wohl bitte einen Gefallen tun und diesen Bericht für mich abschicken?«, wo doch die Anweisung »Schick den Bericht ab« kürzer und damit ökonomischer wäre? Die Antwort lautet: Beim Höflich-Sein geht es nicht um Ökonomie und Präzision, sondern darum, seinem Gegenüber Respekt und Rücksichtnahme entgegenzubringen, indem man ihr oder ihm scheinbar Handlungsspielraum einräumt. Das hängt mit zwei sehr grundlegenden menschlichen Bedürfnissen zusammen, nämlich denen nach Verbundenheit und sozialer Anerkennung auf der einen sowie Freiraum und Distanz auf der anderen Seite. Begrüßungsrituale dienen also dazu, sich selbst und andere als Mitglieder eines sozialen Gefüges zu bestätigen, während kompliziert formulierte Bitten eher Distanz aufbauen und so den Angesprochenen zumindest formell das Gefühl geben, die Bitte auch ausschlagen zu können und damit Handlungsspielraum zu haben.

Was wir als höflich empfinden, hängt vor allem von unserer kulturellen Prägung ab. Gerade im interkulturellen Kontakt kommt es daher beim Thema Höflichkeit oft zu Missverständnissen und kleineren Turbulenzen. Gilt hierzulande zum Beispiel ein fester Händedruck zur Begrüßung als Respektsbekundung, ist Körperkontakt bei der Begrüßung (vor allem beim ersten Kennenlernen) in fernöstlichen Kulturen tabu. Stattdessen verbeugt man sich voreinander, wobei die Tiefe der Verbeugung sich nach dem sozialen Status des Gegenübers richtet. Und wer in Amerika auf ein »How are you?« mit mehr als einem »Fine!« antwortet und tatsächlich anfängt zu erzählen, wie es ihm oder ihr gerade geht und welche Sorgen er oder sie hat, der wird wahrscheinlich nur irritierte Blicke ernten. Wir mögen diese scheinbare Oberflächlichkeit als unhöflich empfinden, in Amerika ist »How are you?« aber eine Begrüßungsfloskel, genau wie ein »Grüß Gott« bei uns, und damit nicht wörtlich zu verstehen. Außerdem spielen natürlich auch unsere persönlichen Wertvorstellungen eine Rolle dabei, was wir als unhöflich empfinden. Nicht jedem gefällt es, in einem Geschäft geduzt zu werden, und im Restaurant den Stuhl zurechtgerückt zu bekommen kann schnell als nicht respektvoll, sondern bevormundend empfunden werden.

Höflichkeit kann also viele Formen annehmen, sie ist ein Feld mit eher lockeren Regeln, die viel Spielraum – nicht nur für Missverständnisse – lassen. Wir können unser Höflichkeitsniveau je nach Situation anpassen und selbst entscheiden, wie viel Aufwand wir für welche Personen betreiben, je nachdem wie vertraut wir mit ihnen sind. Sie ist ein feinfühliges Instrument, mit dem wir spielen und damit auf subtile Weise unsere innere Einstellung zum Ausdruck bringen können.

Quellen

Helga Kotthoff: Aspekte der Höflichkeit im Vergleich der Kulturen, in: Muttersprache 4/2003, Wiesbaden

Podcast-Folge »Höflichkeit«

Mehr zum Thema Höflichkeit erfahren Sie in unserem Podcast Wortcast in Folge 2: »Höflichkeit«: In dieser Folge ist Frau Dr. Marion Grein bei uns zu Gast. Sie leitet den Masterstudiengang Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache an der Uni Mainz und hat einen Teil ihres Lebens in Japan verbracht. Mit uns spricht sie unter anderem über die Schwierigkeiten, die beim Erlernen des deutschen Höflichkeitssystems auftreten können, und darüber, auf welche komplexe Weise man Höflichkeit im Japanischen zum Ausdruck bringt.