5. November 2024
Ob Talahon oder Kanake: Wie Selbstbezeichnungen von jugendlichen Migranten zu rassistischen Stereotypen werden
Sie stehen mit kurz rasierten Kopfseiten und Cap breitschultrig am Bahnhof, tragen das Imitat einer Luxus-Bauchtasche und gefälschte Marken-Sneaker: die »Talahons«. Der Begriff hat eine steile Karriere hinter sich und schaffte es nach Aura und vor Schere auf den zweiten Platz der Jugendwörter des Jahres 2024 des Langenscheidt Verlags – was durchaus umstritten ist, weil er zwischen Selbstbezeichnung und rassistischen Stereotypen diffundiert. Dabei ist die Entwicklung des Wortes Talahon aus sprachwissenschaftlicher Sicht kein Einzelfall.
Talahon kann als eine Wortneuschöpfung angesehen werden und stammt vermutlich vom arabischen Ausdruck Ta’al La’hon ab, was so viel bedeutet wie ›Komm’ mal her!‹[1] Die genaue Herkunft ist unklar; verbreitet werden medial auch Varianten wie Tala huna oder Ta Lahuna. Gemeint sind damit in der Regel migrantische männliche Jugendliche, die sich halbstark geben und an einem gewissen Kleidungsstil erkennbar sind. Vermutlich geht die Neubildung auf einen Song des kurdisch-syrischen Rappers Hassan aus Hagen zurück. Medienberichten zufolge ist er Anfang 20, lebt seit zehn Jahren in Deutschland und arbeitet im Imbiss seiner Familie. Vor zwei Jahren, 2022, veröffentlichte er das martialisch anmutende Video mit dem Song »Ta3al lahon« und legte im Februar 2024 den zweiten Teil nach.[2] In dem Rap geht es um das Leben auf der Straße, um Gewalt und Kriminalität. Hassan ist inmitten junger Männer mit Sturmhauben und Gewehren zu sehen und singt seinen Text, aufgeladen mit anzüglichen, markigen Worten – ein im Kern gewaltverherrlichendes Video.
Damit traf Hassan jedoch einen Nerv: »Talaʼ hon, ich geb dir einʼ Stich, ich bin der Patron« ist ein Reim des Raps, der in den sozialen Medien viral ging. Immer mehr internetaffine Jugendliche griffen ihn auf. In der Folge überfluteten Millionen Clips mit dem Hashtag »Talahon« das Netz, in denen Jugendliche zu dem Song in die Luft boxen, rumhängen, sich cool geben. Manchmal sprechen sie Deutsch ohne Pronomen oder sagen »Wallah«[3]: »Halbstarke Großstädter inszenieren sich in Macho-Gangsterpose, filmen sich gegenseitig beim Schattenboxen oder Liegestütze machen vorm Hauptbahnhof in Bremen, am Jungfernstieg in Hamburg oder in der U-Bahn-Station in Hannover.«[4] Oft wirken die Clips selbstironisch und übertrieben; sie beinhalten mithin eine humoristische Komponente.
Talahon: Verbaler Freifahrtschein für Rassismus?
Der Ausdruck Talahon wurde somit nach und nach zur Selbstbezeichnung von überwiegend migrantischen Jugendlichen. Doch auch einige gewaltverherrlichende Clips machten die Runde und solche, in denen »Talahons« erklärten, Frauen gehörten hinter den Herd. In der Folge wurde ihnen ein aggressives Verhalten und ein problematisches Geschlechterbild unterstellt. »Zeitungen wie die Bild benennen es als ›widerlichen TikTok-Trend‹. Die Bild schreibt: ›Sie sind 14 bis 25 Jahre alt, meistens Migranten, oft mit deutschen Pässen – und sie haben ein Weltbild aus dem Mittelalter. Sie sind die ›Talahons‹! Frauenfeindlich, sexistisch, patriarchisch und gewaltverherrlichend.‹«[5] Rechtspopulistische Accounts forderten in den sozialen Medien, Talahons abzuschieben, es wurde »Remigration« verlangt.[6] »Schon jetzt warnt der Heidelberger Rapper Animus davor, dass ›Talahon‹ als ein ›neues Synonym für Kanake‹ verwendet und zu einem ›verbalen Freifahrtschein‹ für Rassismus wird, gut versteckt unter dem Deckmantel des Humors.«[7]
Dabei haben Untersuchungen von Jutta Brennauer für die »Neuen deutschen Medienmacher*innen«, ein Netzwerk bundesdeutscher Journalisten und Journalistinnen mit und ohne Migrationshintergrund, belegt, dass es nur einige wenige dieser Äußerungen von »Talahons« gibt, die jedoch vielfach zitiert wurden, und dass die meisten Clips einfach nur Jugendliche zeigen, die zu dem Song tanzen: »Der Song ist gewaltverherrlichend – das auf jeden Fall. Aber viele Medien reduzieren diese ganzen Videos jetzt auf einen reinen Sexismus-Trend – und zwar einen Sexismus-Trend von Musliminnen und Menschen mit Migrationsgeschichte –, anstatt Sexismus als gesamtgesellschaftliches Problem zu thematisieren.«[8]
Löst Talahon somit das ältere Kanake ab? Letzteres stammt aus dem 19. Jahrhundert, wurde zuerst von Seeleuten entlehnt und bedeutete ursprünglich ›Südseeinsulaner, Polynesier‹. Der Begriff geht auf das polynesische kanaka zurück und bedeutet ›Mensch‹.[9] Während also Kanake zunächst ein Volk einer südpazifischen Inselgruppe bezeichnete und positiv besetzt war, weil die Südseeinsulaner als zuverlässig galten,[10] wird es spätestens seit den 1960er-Jahren, nachdem im Zuge der Anwerbeabkommen unter anderem Italiener, Spanier und Türken nach Deutschland kamen, in der Bedeutung als ›Ausländer‹, später ›Türke‹ abwertend im Sinne eines Schmähwortes verwendet,[11] ohne jedoch zunächst einen konkreten ethnischen Bezug zu haben.
Kanake: Rückeroberung und positive Umdeutung
Einen starken Anstieg der Verwendung des Begriffs Kanake ist für den Zeitraum Mitte bis Ende der 1980er-Jahre zu konstatieren.[12] Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es Anfang der 1990er-Jahre zu dem Versuch einer Umdeutung kam. »Der Kieler Autor Feridun Zaimoglu brachte den Begriff ›Kanak Sprak‹ auf ›im Sinne eines sprachlichen Reclaims, das heißt Rückeroberung und positive Umdeutung eines negativ besetzten Begriffs‹.«[13] Auch nutzte die Hip-Hop-Gruppe »Das Cartel« den Ausdruck Kanake als stolze Eigenbezeichnung.[14] Außerdem versuchte die bundesweite Vereinigung »Kanak Attak«, die »Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen anzugreifen«. Trotzdem bleibt bis heute die abwertende Konnotation des Wortes bestehen, weswegen das AntiDiskriminierungsBüro (ADB) Köln/Öffentlichkeit gegen Gewalt e. V. auch dazu rät, auf dessen Verwendung gänzlich zu verzichten, weil es als eine abwertende Fremdbezeichnung angesehen werden müsse.[15]
Wie sich zeigt, hat die Bedeutung des Jugendwortes Talahon eine ähnliche Karriere durchlaufen wie die ältere Bezeichnung Kanake. Der Migrationsforscher Mark Terkessidis macht darauf aufmerksam, dass Kanake inflationär benutzt wurde und es nicht mehr so ohne Weiteres möglich war zu unterscheiden, ob es »eine Art Selbstaufwertung sein soll im antirassistischen Sinne oder ob es eine Art ›Normal werden‹ eines Wortes ist, das besser nicht im Umlauf sein sollte«.[16]
Anders verhält es sich mit dem erst- und drittplatzierten Jugendwort 2024: Das Gewinnerwort Aura und das drittplatzierte Schere sind in der Öffentlichkeit und Medienwelt weniger umstritten. Dabei ist Aura als gehobener Ausdruck in der Gegenwartssprache bereits im Sinne von ›Ausstrahlung‹, ›Wirkung‹ oder ›Image‹ geläufig,[17] wobei der Gebrauch in der Jugendsprache in Kombination mit minus oder plus und einer Zahl scherzhaft für Übertreibungen und Zuspitzungen verwendet wird: »›Ich dachte, es gibt keine Stufe mehr und bin gestolpert – minus 50 Aura‹, nannte Langenscheidt als Beispiel für die Verwendung.«[18]
Der jugendsprachliche Ausdruck Schere wiederum stammt nach Angaben des Verlags aus der Online-Spiele- und Streaming-Szene. Die neue Bedeutung des Wortes sei ein Schuldeingeständnis. Ein Webvideoproduzent (ein sogenannter Streamer) hatte in einem Online-Spiel seinem Charakter Scherenhände angezogen und wurde von einem anderen dazu aufgefordert, statt seiner Hände »die Schere zu heben«. Danach machte der Begriff im Netz die Runde. Doch es ist zweifelhaft, ob er tatsächlich von Jugendlichen verwendet wird oder nur in einem bestimmten (Online-)Umfeld bekannt ist.[19] Da die Vorschläge für das Jugendwort von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 10 und 20 Jahren auf der Website des Langenscheidt-Verlags eingereicht werden können und auch die Abstimmung online erfolgt, sind Verzerrungen (etwa durch Aufrufe von Influencern und Influencerinnen, für ein Wort zu stimmen, oder durch falsche Altersangaben) nicht gänzlich auszuschließen, auch wenn der Verlag die Vorschläge unter der Fragestellung sichtet, wie verbreitet das Wort wirklich in der Jugendsprache ist.[20]
Diskriminierende Wörter werden bei der Wahl des Jugendwortes üblicherweise aussortiert. Im Fall von Talahon argumentierte der Langenscheidt-Verlag dahingehend, dass sich die bezeichneten Jugendlichen selbst (scherzhaft) so nennen und das Wort dann keine diskriminierende Bedeutung habe.[21] Während Kanake heute abwertend konnotiert ist und als rassistische Beschimpfung aufgefasst werden kann, ist dieser Prozess bei Talahon noch im Fluss – wenngleich es danach aussieht, dass das zweitplatzierte Jugendwort 2024 eine ähnliche Karriere nehmen wird wie Kanake.
[1] Katharina Köll, Bauchtasche ist am wichtigsten: Was hinter dem Talahon-Trend steckt, WDR, 26.07.2024, https://www1.wdr.de/nachrichten/talahon-tiktok-trend-hassan-hagen-100.html.
[2] Miriam Keilbach, Talahons: Satirische Jugendkultur oder Anzeichen für gescheiterte Migration? RND, 10.09.2024, https://www.rnd.de/panorama/jugendwort-talahon-was-bedeutet-der-begriff-wann-verwendet-man-ihn-CVDCYSMXB5FCPJXSRM6XUTSQFA.html.
[3] Ebd.
[4] Alexandra Friedrich: Talahon in Endrunde fürs Jugendwort: Ein rassistischer Begriff? NDR, 08.09.2024, https://www.ndr.de/kultur/buch/Talahon-in-Endrunde-fuers-Jugendwort-Ein-rassistischer-Begriff,jugendwort244.html.
[5] Ebd.
[6] Jugendwort des Jahres? Warum über Talahon als Jugendwort diskutiert wird, Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Nova, 01.08.2024, https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/jugendwort-des-jahres-warum-ueber-talahon-als-jugendwort-diskutiert-wird.
[7] Florian Kappelsberger, TikTok-Trend: Wer ist ein Talahon?, Spiegel Online,13.07.2024, https://www.spiegel.de/kultur/tiktok-trend-wer-ist-ein-talahon-a-630b5d73-3109-43da-9ad2-d359dc79563c.
[8] Ebd.
[9] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/Kanake.
[10] Gabriele Trost, Geschichte der Gastarbeiter: Woher stammt das Wort Kanake?, Planet Wissen, 18.05.2020, https://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/geschichte_der_gastarbeiter/pwiewissensfrage550.html.
[11] Ebd.
[12] https://www.dwds.de/wb/Kanake.
[13] Heike Wiese, Kiezdeutsch – Ein neuer Dialekt entsteht, München 2012, S. 15–17.
[14] Matthias Heine, Ein Mann, ein Wort: Wie »Kanake« zum rassistischen Hasswort wurde, Welt Online, 18.04.2016, https://www.welt.de/kultur/article154409100/Wie-Kanake-zum-rassistischen-Hasswort-wurde.html.
[15] Sprache schafft Wirklichkeit, Glossar und Checkliste zum Leitfaden für einen rassismuskritischen Sprachgebrauch, AntiDiskriminierungsBüro (ADB) Köln/Öffentlichkeit gegen Gewalt e. V., 2013, S. 10.
[16] Redaktion Belltower, Warum ich das nicht mehr hören will: »Kanake«, Belltower News, 13.11.2008, https://www.belltower.news/warum-ich-das-nicht-mehr-hoeren-will-kanake-30116/.
[17] https://www.dwds.de/wb/Aura.
[18] Auf Buchmesse verkündet: »Aura« ist das Jugendwort des Jahres, ZDF, 19.10.2024, https://www.zdf.de/nachrichten/wissen/aura-jugendwort-des-jahres-2024-100.html.
[19] Denise Orlean, »Schere heben«: Was das Jugendwort bedeutet, RND, 19.10.2024, https://www.rnd.de/wissen/jugendwort-schere-heben-woher-kommt-der-begriff-was-bedeutet-er-RCISIILAK5BDNFP6PBBMBEBXHQ.html.
[20] Mailine Albrecht, »Talahon«, »Schere« und »Aura«: So erklären Schülerinnen und Schüler in BW die Jugendwörter 2024, SWR, 11.09.2024, https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/jugendwort-talahon-schere-aura-2024-100.html.
[21] Erik Scharf, Jugendwort des Jahres steht fest – es ist nicht »Talahon«, FR, 24.10.2024, https://www.fr.de/frankfurt/talahon-schere-aura-langenscheidt-jugendwort-des-jahres-buchmesse-frankfurt-zr-93364568.html.
Cordula Kabasch